Business ist Kreativität

OLEG FONARYOV
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Wer hat die bewachte Wohnanlage gerendert?
In den Büchern stehen die Namen der Kriegsherren.
Haben die Oligarchen die Polygone geformt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon,
Wer machte es zu einem Shooter-Spiel?
Wer hat den Schwarm der Zombies programmiert?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Mall of China fertig war,
Die 3D-Experten?

Fragen eines chinesischen Goldbauern (Hito Steyerl nach Bertolt Brecht)

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Von Beruf bin ich eigentlich Luftfahrtingenieur. Nach dem Studium sollte ich Raketen, Raumschiffe und Steuerungssysteme bauen, aber als die Sowjetunion zusammenbrach, wurde ihr Raumfahrtprogramm abgewickelt, und die ehemaligen Angestellten begannen, auf der Straße irgendwelches Zeug zu verhökern. Ich versuchte, eine eigene Firma zu gründen, und es war mein ursprünglicher Traum, in die Hochtechnologie einzusteigen. Das war im Rahmen staatlicher Programme nicht mehr möglich, also musste ich es mir selbst aufbauen. Ich habe alles alleine geschafft, weil ich keinen Vater hatte. Ich komme aus einer armen Familie mit einer alleinerziehenden Mutter.

Als ich in den 1990ern meine Firma eintragen ließ, ähnelte das Umfeld der Zeit der sowjetischen Neuen Ökonomischen Politik in den 1920er-Jahren, als die ersten privaten Unternehmen auftauchten. Als wir begannen, mit interaktiven Anwendungen zu arbeiten, bestand das Kernteam aus Wissenschaftlern des Versuchslabors der Panzerfabrik Malyschew. Man könnte also durchaus sagen, dass wir anfangs das wissenschaftliche Potenzial der Sowjetunion genutzt haben.

Bald nach der Gründung in den 1990ern wurden wir zu einem der führenden Anbieter auf dem Markt. Unser Ehrgeiz wuchs. In dieser Zeit, Anfang 2000, war das Internet für uns bis zu einem gewissen Grad noch Science-Fiction. Aber dann entschieden wir, unser Medium zu wechseln – vom Papier zur Elektronik. Wir verkauften unser gesamtes Druckinventar und fingen an, Webdesign zu machen. Nebenbei erweiterte ich auch meine eigenen Kenntnisse, denn wir wussten nahezu nichts über das Internet. 2001 waren wir zu zehnt, und seither haben wir die Zahl unserer Angestellten jedes Jahr verdoppelt. Das ist ein sehr hohes Wachstumstempo.

Die meisten westlichen Firmen arbeiten hier in der Ukraine, weil es billiger ist; die Arbeitskraft kostet sie nicht viel. Klar, dass sie Aufgaben hierhin auslagern. Aber je mehr sich die Lebensqualität bei uns der Lebensqualität in Europa angleicht (der Euromaidan hat mit der Sehnsucht der Ukrainer nach einem besseren Leben zu tun), um so mehr wird auch hier der Preis der Arbeitskraft steigen und unsere Region für das Outsourcing weniger attraktiv machen.

Für mich ist Business Kreativität. Ich unterscheide nicht zwischen meiner künstlerischen Praxis und meiner geschäftlichen Tätigkeit.

Wir erzeugen Hightechprodukte wie virtuelle Realitäten, Simulatoren und erweiterte Realitäten, in denen unsere Wirklichkeit mit dem Computer verschmilzt. All das gründet auf unserer eigenen Vorstellung davon, wie der Mensch künftig mit der virtuellen Welt umgehen wird.

Für mich ist Business Kreativität. Ich unterscheide nicht zwischen meiner künstlerischen Praxis und meiner geschäftlichen Tätigkeit. Ich erkenne viele Ähnlichkeiten zwischen beidem. Ich mache meine Arbeit nicht nur wegen des Geldes, sondern auch für meine Selbstverwirklichung. Interessanterweise erzeuge ich auf beiden Gebieten virtuelle Welten: künstliche 3D-Welten in meinem Brotberuf und unwirkliche Welten in meiner Kunst.¹ Das Projekt Another Ukraine zeigt die Ukraine buchstäblich in einem anderen Licht, aus verschiedenen frontalen und schrägen Blickwinkeln. Die Menschen in Europa haben die Ukraine noch nie so gesehen. Viele Künstler (insbesondere Fotografen) konzentrieren sich auf die problematischen Aspekte des Lebens in der Ukraine (Revolutionen, Obdachlose, die harte Arbeit der Bergleute und so weiter). Kunstwerke können zeigen, dass selbst dann, wenn die Ukraine Krieg führt, die Menschen immer noch schöpferische Dinge tun.

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Die meisten unserer Architekturaufträge kommen aus Europa. Das ist ein Nearshore-Verfahren im Gegensatz zu dem überwiegend amerikanischen Offshore-Ansatz. Nearshore ist europäischer und passt gerade sehr gut in unsere Zeit. Man arbeitet mit seinen unmittelbaren Nachbarn. Der größte Vorteil ist die minimale Zeitdifferenz. Wenn man beispielsweise mit Menschen in Indien arbeitet, muss man sich außerdem mit einer ganz anderen Denkweise und anderen Begrifflichkeiten auseinandersetzen. Diese Erfahrung haben wir selbst gemacht, als wir einen Outsourcing-Versuch unternahmen.

Der dritte wichtige Aspekt des Nearshoring ist die geringere räumliche Entfernung. Es ist praktisch, mit dem Flugzeug in nur drei Stunden in Kiew zu sein. Bis vor Kurzem kam man mit Austrian Airlines noch bis nach Charkiw, doch das ist wegen der militärischen Lage leider nicht mehr möglich. Das schränkt uns sehr ein und bedeutet einen schweren Rückschlag für uns hier in Charkiw.

Die militärische Computersimulation ist unsere eigene Entwicklung: ein sogenannter Stealth-Shooter. Das bedeutet, dass man in dem Spiel nicht von einem Level zum nächsten kommt, indem man den Gegner tötet und eliminiert. Stattdessen geht es darum, mit größtmöglicher Unsichtbarkeit und List vorzugehen, da die Kräfte des Gegners übermächtig sind.

Nearshore ist europäischer und passt gerade sehr gut in unsere Zeit.

In dem Spiel geht es um amerikanische Soldaten in einem nicht näher bezeichneten Land der Dritten Welt. Es sind noch andere Soldaten mit roten Sternen im Spiel, aber das ist eigentlich nur eine Formalität. Die amerikanischen Soldaten werden aus dem Hinterhalt überfallen und müssen ihr Quartier räumen. Sie fordern einen Hubschrauber zur Unterstützung an, der abgeschossen wird. Das Spiel wurde in den Jahren 2008 und 2009 entworfen, und was seine Dramaturgie angeht, ist es ziemlich einzigartig. Unter den Protagonisten sind einige Spezialkräfte – einer ist Scharfschütze, ein anderer Pionier, also eine Art Gefechtsingenieur. Man kann dieses Spiel nur vernetzt und gemeinsam mit anderen spielen. Es beruht auf Teamarbeit. Es spielt an keinem konkreten Ort der Welt, aber wir hatten bei der Entwicklung Beirut vor Augen.

Ein anderes, ziemlich interessantes Projekt von uns beruht auf tatsächlichen Ereignissen. Es heißt Skyscraper: Stairway to Chaos und entstand kurz nach dem 11. September während der Suche nach Saddam Hussein, der zu diesem Zeitpunkt im Irak ein Nationalheld war. Nach verschiedenen Berichten wollte Saddam Hussein den Turm von Babylon rekonstruieren und ihn als Symbol nutzen, um die islamischen Völker zu einen. Diesen Turm wollten wir als Marke verwenden. In unserem Computerspiel baut Saddam den Turm, der eine mystische Bedeutung annimmt, indem er den Kontakt zu anderen Welten herstellt. Er funktioniert wie ein Portal zu parallelen Dimensionen, die allerlei Ungeheuer gebären. Saddam entdeckte tatsächlich den historischen Ort des Turms und begann mit Ausgrabungen. Also gibt es dort natürlich auch Zombies.

2014 ist der ukrainische IT-Markt um 30 Prozent eingebrochen – nicht nur in der Softwareentwicklung, sondern auch bei Verbindungstechnologien, Mobiltelefonen, dem Internet und so weiter. Die Marktschrumpfung hatte hauptsächlich mit verringertem Konsum zu tun. Beispielsweise kauften die Leute weniger Mobiltelefone. Außerdem stellten große internationale Firmen, die es sich leisten konnten, Niederlassungen zu verlagern, ihr Geschäft in der Ukraine ein. So wickelte Luxsoft hier ein riesiges Projekt ab und versetzte hunderte Entwickler nach Polen. Samsung hat das Büro in Charkiw geschlossen und ist nach Kiew umgezogen, aber ist immerhin in der Ukraine geblieben. Der Gigant Wargaming hat hier ebenfalls dichtgemacht.

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Prägend für das Geschäft bei uns ist auch, dass viele Firmen Body-Leasing betreiben: Sie verleihen ihre Angestellten. Diese Leute arbeiten direkt für die Firma des Kunden. Das ist für IT-Firmen die sicherste Einnahmequelle. Man ist für nichts verantwortlich. Man verleiht seine Angestellten, und über ihren Einsatz bestimmen die Kunden selbst. Dementsprechend investieren sie auch einiges in den Aufbau eines Teams. Nun zögern die Kunden aber wegen all der jüngsten Ereignisse in der Ukraine, sich auf einen derartig langwierigen Prozess einzulassen. Viele längerfristig angelegte Projekte werden zurzeit gestrichen. Die kurzfristigen laufen noch, aber wie die Ukraine in einem oder zwei Jahren dastehen wird, weiß heute niemand.

Im Allgemeinen läuft alles gut hier, abgesehen von einer gewissen Nervosität, aber wenn die ersten Granaten einschlagen, wird es nicht mehr möglich sein, hier sein Geld zu verdienen. Ab und zu gibt es kleinere Explosionen in der Stadt, aber noch betrachten die Leute sie nicht als unmittelbare Bedrohung. Die Gefahr, dass man von einer dieser Explosionen etwas abbekommt, ist gering. Doch diese Explosionen könnten auch Vorboten umfangreicherer Aktionen sein. Wenn die Lage ernst wird, müssen wir unser Geschäft abziehen, unsere Leute retten und ihnen die Möglichkeit geben, weiter zu arbeiten. Wenn es ein echtes Problem gibt, wenn der Feind anrückt, wird es zu einer riesigen Auswanderungswelle in Richtung Europa kommen. Deshalb haben wir entschieden, mit unserem Geschäft und unseren Leuten ins Ausland zu gehen, falls eine Notlage eintritt.

Alle fürchten sich vor der schlichten Tatsache, dass morgen schon die ersten Bomben hochgehen könnten. Und das könnte so schnell gehen, dass wir zu keiner Reaktion fähig sein werden. Wir befinden uns 80 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, das ist eine einstündige Panzerfahrt. Die scheinbare Ruhe kann jeden Moment zerreißen. Die Situation entzieht sich jeder menschlichen Kontrolle.

¹ Another Ukraine: http://olegfonaryov.com/site/#/actual/another-ukraine
Another Planet: http://olegfonaryov.com/site/#/actual/another-planet

OLEG FONARYOV (* 1970) ist Gründer und Geschäftsführer der auf 3D-Rendering spezialisierten Firma Program-Ace in Charkiw, Ukraine. Außerdem ist er Künstler. Program-Ace übernimmt hauptsächlich Arbeiten, die von westlichen Kunden ausgelagert werden: 3D-Architekturmodelle, Entwicklungen für Internet-Casinos oder Komponenten für Computerspiele. Das Geschäftsmodell der Firma könnte man als Nearshore-Verfahren in Abgrenzung zum üblichen Offshoring bezeichnen. Der Text wurde aus einem Gespräch mit Oleg Fonaryov, das Teil der Recherche für die Videoarbeit The Tower von Hito Steyerl war, zusammengestellt. Das Interview führte der Produzent des Videos Oleksiy Radynski im Juli 2015.

ABBILDUNGEN: Oleg Fonaryov, Sun Sleeps in the Crimea, 2015, Fotografie; Hito Steyerl, Tank/Texture, 2015