Die Furcht vor dem Inhalt

ROB HORNING
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  1. In Kunst und Antikunst gibt sich Susan Sontag alle Mühe, die Kunst vor der Reduktion auf bloßen Inhalt zu bewahren. „Was immer [der Begriff des Inhalts] in der Vergangenheit bedeutet haben mag: Heute ist er in erster Linie ein Hindernis, eine Last, eine subtile oder auch weniger subtile Philisterei.“ Wenn man diesen Satz aus seinem Zusammenhang löst, könnte man ihn auch als eine zeitgenössische Kritik des Internets missverstehen. Denn das Internet quillt über vor Inhalt beziehungsweise „Content“ – sei es in Form schäbiger Clickbaits, schludriger journalistischer „Hot Takes“, alberner viraler Meme oder sinnloser Tests. Die Bezeichnung „Content“ ist in einer solchen Kritik des Mediums höhnisch gemeint, wie um zu sagen, dass derartiges Material nicht auch noch mit dem Wort „Schreiben“ geadelt werden sollte. Tatsächlich wird „Content“ immer nur „erstellt“, nicht geschrieben. „Erstellen“ klingt eher nach einem zynischen, mechanischen Vorgang, der sich ohne jede Inspiration oder innere Überzeugung abspulen lässt.

 

  1. „Die Gewohnheit, sich dem Kunstwerk in interpretierender Absicht zu nähern,“ festigt nach Sontag „die Vorstellung, daß es tatsächlich so etwas wie den Inhalt eines Kunstwerks gibt.“ Internet-Content verlangt von niemandem, dass man ihn interpretiert. Er zeichnet sich nach allgemeiner Einschätzung durch prinzipielle Bedeutungslosigkeit aus. „Content“ ist zu einem eigenen Genre von „Inhalt“ geworden. Der Inhalt des „Content“ gilt als vernachlässigbar, irrelevant, bloße Pose. Content im Internet ist die reine Form. Wir empören uns über seinen Mangel an Bedeutung.

 

  1. Das Content-Problem im Internet erzeugt einige Widersprüche. Man geht davon aus, dass niemand diese philiströsen Inhalte wirklich will, dass nur die perversen Anreize des Mediengeschäfts ihre Herstellung fordern. Doch zugleich gelten sie als unwiderstehliche Ablenkung, die uns die Zeit für gehaltvollere Lektüre stiehlt. Content scheint in solchem Übermaß vorhanden, dass er paradoxerweise unser Leben verödet. Sontag meinte, „interpretieren heißt die Welt arm und leer machen“, doch die Pest des Internet-Content überwältigt uns gerade dadurch, dass der Verstand unterfordert wird, dass es an Substanz fehlt.

 

  1. Sobald wir unser eigenes Material ins Netz stellen, laufen wir Gefahr, uns selbst in Inhalt zu verwandeln: entweder in bedeutungslosen Internet-Content, also in Inhalt als Selbstzweck, in eine Darstellung unserer selbst als reine Form, die sich eher in Abhängigkeit von den Affordanzen und Konventionen der Social-Media-Plattformen artikuliert als in den Begriffen irgendeines inneren Wesens; oder in jenen überdeterminierten Inhalt, den Susan Sontag so verachtete, weil er zu sehr danach giert, interpretiert zu werden oder in irgendeiner abgedroschenen und kunstfeindlichen Weise bedeutsam zu sein. Und doch versuchen wir, unser Leben als Kunst zu leben. Darin besteht die Verheißung des persönlichen Ausdrucks als öffentlicher Dokumentation. Das Selbst ist eine Inhalte-Wirtschaft.

 

  1. In einem radikalen Akt des kritischen Willens besteht Susan Sontag auf die Autonomie des Kunstwerks. Andererseits sind es gerade solche radikalen, kritischen Willensakte, vor denen die Kunst nach Sontags eigener Überzeugung zu bewahren ist. Wir geraten in einen ähnlichen Widerspruch, wenn wir die Autonomie des Selbst behaupten. Es muss vor unseren eigenen Hoffnungen für es, unseren Forderungen an es in Schutz genommen werden.

 

  1. Die Sünde der Interpretation, schreibt Sontag, „macht die Kunst zum Gebrauchsgegenstand.“ Ein ähnlicher Anspruch ästhetischer Nutzlosigkeit dient als Schablone unserer persönlichen Authentizität. Alles, was zu Inhalt gemacht wird, ist dem Selbst abgepresst und nicht mehr Teil von ihm; aus dieser Perspektive ist alles vollkommen unauthentisch, einfach nur dazu dienlich, irgendein Zeichen von sich zu geben. Das Selbst wäre nur noch das, was sich anders nicht ausdrücken lässt. In der Wunschvorstellung ist unser innerer Zusammenhalt so stark, dass andere Menschen unsere Form nicht von unserem Inhalt unterscheiden könnten, nicht einmal analytisch oder vorläufig. Oder wie Sontag in „Über Stil“ sagt: „Die Maske ist das Gesicht.“ Doch der Wille zur Interpretation ist immer stärker als der Wille zum Schaffen. Künstlerinnen und Künstler können nur ein Publikum erzeugen.

 

  1. Das „Selbst-Verständnis“ ist trivial, wenn nicht vollkommen bedeutungslos. Es ist eine Tautologie. Der Vorgang des Erkundens, wer man selbst ist, führt entweder dazu, dass man sich verändert – und verliert damit seine Gültigkeit, oder er fördert ein unwandelbares, von keiner Offenbarung berührtes inneres Wesen zutage. Verstehen können uns nur andere Menschen. Ihr Wille, uns zu interpretieren, stiftet in uns das Gefühl eines Selbst. „Indem man das Kunstwerk auf seinen Inhalt reduziert und es dann interpretiert, zähmt man es“, schreibt Sontag. „Interpretation macht die Kunst manipulierbar, bequem.“ Social Media zwingen uns dagegen unter eine Konformität ohne Rücksicht auf Interpretierbarkeit; wir buhlen um Interpretation, damit wir für unser Selbst einen Inhalt beanspruchen können, doch dieser Inhalt darf auch nicht allzu offensichtlich sein. Ziel unserer Arbeit am Selbst ist es, zu geringfügigen Fehldeutungen anzuregen.

 

  1. „Um der Interpretation zu entgehen, kann die Kunst zur Parodie werden.“ Oder: Um der Parodie zu entgehen, kann die Interpretation zur Kunst werden. Oder: Um der Kunst zu entgehen, kann die Interpretation zur Parodie werden. Oder: Um der Kunst zu entgehen, kann die Parodie zur Interpretation werden. Parodie ist Selbstinterpretation. Interpretation ist Selbstparodie. Kunst ist Selbstinterpretation. Interpretationen gehen niemals fehl. Parodie und Interpretation gefährden die fragwürdige und prekäre Autonomie der Kunst, indem sie damit drohen, diese interessanter zu machen.

 

  1. Das Genre ist unverzichtbar für die Authentizität des Selbst. Ein Selbst kann nur in Bezug auf einen lesbaren Satz von Regeln als „authentisch“ erkannt werden. „Es ist das Erkennen der Wiederholung, das ein Werk verständlich macht“, schreibt Sontag in „Über Stil“. Wenn ich versuche, mir selbst treu zu bleiben, mache ich aus diesem „Ich“ ein Genre mit unmittelbar erkennbaren und wiederholbaren Stilfiguren. Ich kann nie authentisch sein, es sei denn im Genre des Authentischen. Ich kann ein paar bewährte Stereotypen meiner selbst erzeugen und bedienen. Man selbst zu sein bedeutet immer, eine Selbstparodie zu sein – und eine Parodie seiner selbst zu sein, ist der Prozess der Selbstfindung. Vor dem Selbstsein kommt die Selbstparodie.

 

  1. „Das ‚Inhalt’-Haben als solches“, schreibt Sontag, „ist für ein Kunstwerk bereits eine recht spezielle stilistische Konvention“. Aber wer will schon konventionell sein? Man kann sich nicht entschließen, langweilig zu sein, denn das wäre bereits eine interessante Entscheidung. Ein Selbst zu haben, fordert zur Interpretation heraus, noch während man sich ihr entzieht. Es erzeugt Inhalt, der sich umso schwieriger verstehen und verinnerlichen lässt, je mehr sich davon ansammelt. Das Projekt der Selbstverständigung gelingt nur, indem es scheitert.

 

  1. Ich habe mein Selbst bisher nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, es zu verändern.

ROB HORNING ist Redakteur bei The New Inquiry.

ABBILDUNG: Cajsa von Zeipel 
Pony Tails: To Live Play Move and Clash as She Will, 2014. Courtesy die Künstlerin; Company Gallery, New York