Die Konstruktion von Unberechenbarkeit

ELENA ESPOSITO
A History of Speculation - Pohflepp Woebken -Cam007

Die moderne Gesellschaft definiert sich selbst im Verhältnis zur Zeit – insbesondere im Deutschen, wo der Ausdruck für Moderne Neuzeit lautet. Die Moderne ist die Zeit des Neuen, der Suche nach und der Konstruktion einer Zukunft, über die wir, wie Reinhart Koselleck1 zeigt, nur wissen, dass sie sich von der Gegenwart und von der Vergangenheit unterscheiden wird; und dies ist alles, was die Vergangenheit uns lehren kann.

Die Kontinuität zwischen der Vergangenheit und der Zukunft traditioneller Gesellschaften, wie sie in der Idee einer historia magistra vitae – und indirekt in der Annahme einer letzten allgemeinen Ordnung, die das (vergangene, gegenwärtige und zukünftige) Universum regiert – enthalten ist, ist heute passé. Um sich auf die Zukunft vorzubereiten, ist es weiterhin hilfreich, die Vergangenheit zu kennen, doch im Sinne einer Diskontinuität, nicht einer Kontinuität. Die Zukunft wird neu sein, also heute unerkennbar, und die Ordnung der Zeit – wenn sie denn noch Ordnung genannt werden kann – wird viel artikulierter und komplexer sein.

Um sich auf die Zukunft vorzubereiten, ist es weiterhin hilfreich, die Vergangenheit zu kennen, doch im Sinne einer Diskontinuität, nicht einer Kontinuität.

Die moderne Zeit ist durch dieses Spannungsverhältnis in Bezug auf die Zukunft, auf Gestaltung und Planung charakterisiert (was sich insbesondere am Beispiel der Logik des Kapitalismus zeigt), das sich als programmatisches Opfer der Gegenwart an die Zukunft verstehen lässt. Der Profit des Kapitalisten ist nicht – wie der Wohlstand des Rentners – das Ergebnis einer in der Vergangenheit konsolidierten Position, die beibehalten, reproduziert oder konsumiert wird.Der Reichtum des Kapitalisten resultiert aus einem dynamischen Produktionsprozess und der Warenzirkulation und dreht sich in erster Linie um die Konstruktion von Zukunft. Profit ist natürlich notwendig, notwendiger als jemals zuvor, um die soziale (und laut Weber auch moralische) Stellung des Unternehmers zu definieren, aber der Bezugspunkt ist nicht mehr die Vergangenheit und auch nicht mehr die Gegenwart. Im klassischen Modell des Kapitalismus wird der Reichtum nicht genossen, indem Geld zum persönlichen Vergnügen oder für die eigene Imagepflege durch auffälligen Konsum ausgegeben wird. Der Kapitalist führt keinen üppigen Lebenswandel, er ist von ausgeprägter moralischer Rechtschaffenheit und er arbeitet viel. Das Ziel ist die kontinuierliche Weiterentwicklung der Firma, nur darum muss Profit gemacht werden, der sofort reinvestiert wird, um weitere zukünftige Profite zu produzieren, die wiederum reinvestiert werden. Die Bedeutung der Gegenwart ist von der Zukunft abhängig, die sie zu produzieren verspricht.

Wenn dies der zeitliche Rahmen der Moderne ist, der in unserem Projekt mit der Idee des Zeitgenössischen verbunden ist, was kann es dann hier bedeuten, eine post-zeitgenössische, post-contemporary, Perspektive einzunehmen? Und wie wirken sich die Transformationen des Kapitalismus auf die Bedeutung von Modernität und der Zeitgenossenschaft aus?

Es geht nicht mehr um die Gegenwart, die für die Zukunft geopfert wird, sondern die Zukunft, die in der Gegenwart benutzt wird.

Als Ausgangspunkt kann die Erkenntnis dienen, dass sich heute in Bezug auf die Zeit eine andere Einstellung durchsetzt, die hauptsächlich durch den Übergang von einer rein kapitalistischen Logik zur finanziellen Logik symbolisiert wird.Der Kern der Finanzökonomie ist bekanntlich nicht die Produktion, sondern der Kredit, und Kredit setzt eine ganz andere Beziehung zur Zukunft in Kraft. Es geht nicht mehr um die Gegenwart, die für die Zukunft geopfert wird, sondern die Zukunft, die in der Gegenwart benutzt wird.

Darum geht es in der Finanzwirtschaft, und das war es, wofür zuvor der Kredit Hunderte von Jahren gedient hat – zumindest seitdem er nicht mehr als Sünde und Gräuel verdammt wurde –, und zwar genau deshalb, weil er die Zeit nutzt.4 Mit Kredit zu arbeiten bedeutet, in der Gegenwart die Offenheit der Zukunft auszunutzen: Wer Geld leiht, geht eine Verpflichtung in der Zukunft ein, indem er die Rückgabe zusagt, aber er kann den Reichtum, der später von ihm erwartet wird, bereits in der Gegenwart genießen. Morgen muss ich die Raten bezahlen, aber heute bekomme ich das Geld, und wenn ich es vernünftig einsetze, kann ich Gewinne machen, die es mir ermöglichen werden, die Schulden zurückzuzahlen und noch zusätzliche Einkünfte zu haben. Ich erzwinge meine Zukunft heute, um eine bessere Zukunft zu schaffen, die nicht kommen würde, wenn ich nicht auf sie einwirken würde, wenn ich nicht die Zirkularität der offenen Zukunft entfalten würde, die hier ihre rechtschaffene Seite enthüllt.

Das ist der Ursprung der Finanzwirtschaft. Doch sie hat den gegenwärtigen Gebrauch der Zukunft durch Darlehen, Sicherheiten, Anleihen vervielfacht und verstärkt, zuletzt durch die Einführung des zunehmend undurchsichtigen Instruments strukturierter Finanzprodukte, die komplexe Modelle verwenden, um die Reflektivität in hyperbolische Höhen zu treiben. Die Verwendung der Zukunft selber wird verkauft und gekauft und dann in Produkten wie der Verbriefung, securitization, wieder verkauft. Die Zukunft wird auf immer komplexere Weisen geschaffen und angebunden, was immer größere Vermögen für die Betreiber dieser Märkte verfügbar macht, wovon die erstaunlichen Zahlen zeugen, die in den »virtuellen« Märkten unserer Gesellschaft zirkulieren – eine aus den Fugen geratene und zunehmend unkontrollierte Einflussnahme auf die Zukunft.

Doch ist das bereits eine post-zeitgenössische Haltung? Man könnte eher an eine gewisse Hyper-Zeitgenossenschaft denken, an die Entwicklung und Betonung einer Zukunftsorientierung die modernen Semantiken bereits implizit ist. In den von den Finanzmodellen projizierten Szenarien verleibt sich die Gegenwart die Zukunft ein – ihre eigene Zukunft, geschaffen aus ihren eigenen Handlungen und Erwartungen. Im Grunde lässt sich das gleiche Verhalten bei der künstlerischen Avantgarde beobachten, selbst wenn man ihre kritischen Intentionen beiseitelässt: Als die Perspektive jener, die sich der Gegenwart »weiter voraus« positionieren, in der Zukunft (oder in den Zukünften), die sie voraussehen und sich vorstellen können.

Aber ist die Logik der Finanzwelt wirklich die Logik, die der Gesellschaft, in der wir leben, zugrunde liegt? Oder ließe sich das Label des Post-Zeitgenössischen dazu verwenden, einen wiederum völlig anderen Umgang mit der Zeit zu markieren, dessen erste Umrisse sich bereits abzeichnen?

Unsere Gesellschaft ist, wie Ulrich Beck vor dreißig Jahren sagte, nicht mehr (oder nicht mehr hauptsächlich) eine kapitalistische Gesellschaft, sondern eine Risikogesellschaft, und Risiko umfasst auch ein kontingenteres und unbestimmteres Verhältnis zur Zukunft. Die Zukunft des Risikos ist eine entstehende Gegenwart, die von den heutigen Erwartungen und Entscheidungen abhängig ist, und zwar nicht, weil sie sie bestätigt, sondern weil sie von ihnen abweicht.5

Dies ist der Unterschied zwischen der Logik des Risikos und der finanzwirtschaftlichen Projektion von Szenarien: Die Erkenntnis, dass die Zukunft, selbst wenn wir sie planen (und je mehr wir sie planen), wenn sie dann eintritt, sich von dem unterscheidet, was wir erwartet haben, und daher grundsätzlich unberechenbar bleibt.

Im Vergleich zur »Zukunft ohne Zukunft«der Avantgarden und der Planung ist die Zukunft der Risikogesellschaft offen, weil sie infolge unserer Versuche, sie vorauszuberechnen, ständig neu geöffnet wird.

A History of Speculation - Pohflepp Woebken -Cam013

Sie ist keine »gegenwärtige Zukunft« (der Horizont einer Zukunft, den wir uns heute auf der Grundlage vorhandener Informationen und statistischer Modelle vorstellen können), sondern »zukünftige Gegenwart« (eine Gegenwart, die noch nicht existiert, aber später, und teilweise als Ergebnis heutiger Handlungen und Entscheidungen eintreten wird). Keiner kann sich selbst in der zukünftigen Gegenwart lokalisieren, »vor« dem Heute und seinen Zwängen, weil die zukünftige Gegenwart noch nicht existiert und unberechenbar bleibt. Es ist die Zukunft, deren Vergangenheit unsere heutige Gegenwart ist, mit unserer gegenwärtigen Zukunft und all unseren Versuchen, sie zu vorauszusehen.

Diese Zirkularität ist der blinde Fleck (im Sinne von Foerster7) der Finanzwirtschaft und ihrer Logik, wie sich in der Krise zeigte, die durch strukturierte Finanzprodukte ausgelöst wurde: Finanzmodelle können alle möglichen zukünftigen Kurse auf den Märkten vorausberechnen, nur nicht die Zukunft einer modellgeleiteten Finanzwirtschaft – die einzige Zukunft, die später eintreten wird.8

Eine post-zeitgenössische Haltung (und vielleicht eine post-zeitgenössische Kunst) könnte diese Lage reflektieren: Die Offenheit zweiter Ordnung einer Zukunft, die umso unerkennbarer ist, je mehr man versucht, sie zu antizipieren, und je mehr es einem gelingt, sie zu beeinflussen – indem man sich ihr voraus positioniert (als Avantgarde) oder indem man sie in der Gegenwart benutzt (wie die Finanzwirtschaft). Die post-zeitgenössische Lage könnte die einer Gegenwart sein, die mit der Offenheit einer Zukunft konfrontiert ist, die nicht deshalb unerkennbar und unbestimmt ist, weil sie unabhängig von uns, unserem Handeln und unseren Erwartungen ist, sondern gerade weil sie von der (zeitgenössischen) Gegenwart konstruiert wird und ohne unser Eingreifen nicht zustande kommen würde. Wenn wir nichts unternommen und erwartet hätten, wäre die Zukunft anders eingetreten – auch wenn sie nicht so aussehen wird, wie wir es heute erwarten.

Es ist kein Zufall, dass die innovativste heutige Kunst fast immer ein Element der Performativität einbezieht – indem sie die Zirkularität als ein Asset und nicht als ein Problem behandelt. Bei Installationen und Performances oder sogar bei der Raumgestaltung von Museen wie (paradigmatisch) dem DIA in Boston9 wird das Kunstwerk bei jeder Interaktion mit dem Betrachter in einer neuen Weise produziert. Die künstlerische Wirkung ist immer anders und radikal unberechenbar – doch nicht weil sie frei von Zwängen wäre. Ganz im Gegenteil: Die Wirkung könnte nicht ohne die Zwänge erreicht werden, die die Gestaltung der Erfahrung und der künstlerische Raum auferlegen. Die Gegenwart zwingt der Zukunft eine Form auf, die sie nicht kontrollieren und vorausberechnen kann. Sie kann nur die Überraschung vorausberechnen – eine Rechnung, die von jeder neuen unvorausberechenbaren Gegenwart bestätigt wird.

1 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979.
2 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte., in: Marx-Engels-Werke, Bd. 40, Berlin 1968, S. 465–588.
3 Was einigen Beobachtern zufolge seltsamerweise zu einer Form von »Rentenkapitalismus« zurückzuführen scheint, bei dem der produzierte Reichtum wieder die Form von Einkommen aus Besitz annimmt – aber aus dem Besitz von Geld, das Zinsen, Renten, Dividenden oder Kapitalgewinne abwirft.
Jacques Le Goff, Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, Stuttgart 1988. Der Verleiher macht Gewinn, indem er Geld verleiht, aber ohne etwas zu produzieren oder zu liefern – abgesehen von der Zeit, die bis zu dem Moment vergeht, in dem das Geld zurückgezahlt wird. Der Verleiher verkauft tatsächlich Zeit, aber die Zeit (so hieß es) gehört Gott, der sie dem Menschen zur freien Verfügung gab, aber nicht um sie zu verkaufen und Profit damit zu machen.
Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin New York 1991.
Niklas Luhmann, »Die Zukunft kann nicht beginnen: Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft«, in Peter Sloterdijk (Hg.), Von der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft, Frankfurt a. M. 1990.
7 Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside CA 1981.
8 Elena Esposito, Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft, Heidelberg 2010.
9 http://www.diaart.org/sites/main/beacon

A History of Speculation - Pohflepp Woebken -Cam014

Dieser Text ist Teil des Buches Der Zeitkomplex. Postcontemporary, herausgegeben von Armen Avanessian und Alexander Martos.

ELENA ESPOSITO lehrt Soziologie der Kommunikation an der Universität Modena-Reggio Emilia (I). Sie beschäftigt sich mit der Theorie sozialer Systeme, insbesondere im Bereich sozialen Managements von Zeit sowie dem Gebrauch von Zeit in der Finanzwirtschaft. Im Fokus ihrer aktuellen Forschungsprojekte stehen die Möglichkeiten und Formen des Vergessens im Internet, die Soziologie von Algorithmen und die vermehrte Verwendung von Ranglisten und Bewertungen im Informationsmanagement.

ABBILDUNGEN: Sascha Pohflepp und Chris Woebken, A History of Speculation, 2012