Ewiges Leben

CÉCILE B. EVANS UND ANDREW SNYDER-BEATTIE
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Andrew Snyder-Beattie ist Forschungsdirektor am Future of Humanity Institute, einem multidisziplinär ausgerichteten Institut an der University of Oxford, das die „großen Fragen und Perspektiven der Menschheit ins Auge fasst“. Bei folgendem Text handelt es sich um einen Auszug aus einem Gespräch, das die Künstlerin Cécile B. Evans und Snyder-Beattie 2015 im Rahmen einer Reihe von Konversationen zu der Frage geführt haben: Wer wird an der Zukunft der Menschheit partizipieren – und wird es überhaupt eine Zukunft geben? Sämtliche von Snyder-Beattie geäußerten Ansichten sind ausdrücklich privater Natur.

Cécile B. Evans: Ich war unter den Zuhörerinnen und Zuhörern, als der Philosoph Nick Bostrom, der Direktor des Future of Humanity Institute, 2010 seinen Fachbereich in Oxford vorstellte. Er begann seine Vorlesung mit Pieter Bruegels Gemälde von Ikarus, der der Sonne zu nahe kommt. Die Götter sagen zu Ikarus: „Wenn Du der Sonne zu nahe kommst, werden Deine Flügel schmelzen und Du wirst auf die Erde stürzen und sterben.“ Bostrom gliedert die Interpretationen des Bildes in drei verschiedene Möglichkeiten auf. Die Deutung in Richtung Hochmut: Die Menschen sind zu selbstsicher. In Richtung Gleichgültigkeit: Die Menschen sind egoistische Arschlöcher – das kann man aus den im Bild vorkommenden Landarbeitern ablesen, die Ikarus’ Tod keinerlei Beachtung schenken. Und die Deutung in Richtung Unwissenheit: Die Menschen haben absolut keine Ahnung von den größeren Faktoren, die um sie herum am Werk sind – hier die Götter und Halbgötter – und mühen sich weiter ab wie gewohnt. Für jeden dieser drei Deutungsansätze gibt es Argumente, mit denen sie sich jeweils als richtig oder falsch darstellen lassen. Wie kann man nun überhaupt wissen, welche Interpretation man zu wählen hat, um dieser entsprechend zu handeln? Was geschieht, sobald man eine Wahl getroffen hat?

Andrew Snyder-Beattie: Wow, okay.

CBE: Wir haben bereits darüber gesprochen. Ich verstehe, wissenschaftlich gesehen, weshalb ein Neurologe bestimmte Entscheidungen fällen und sein Handeln danach ausrichten muss – immerhin geht es um Menschenleben. Aber als einfacher Mensch, auf den ständig Wahlmöglichkeiten und Meinungen einströmen, die er zu verdauen hat, spüre ich oft, dass es unmöglich ist, eine Wahl zu treffen. Während Du voller Selbstbewusstsein sagst, dass es für einen selbst wichtig sei, eine Wahl zu treffen und weiterzumachen, denn andernfalls würde man überhaupt nichts tun können.

ASB: Also ich weiß nicht, ob man „voller Selbstbewusstsein“ sagen kann. Als Du die Geschichte mit Ikarus erzählt hast, ging mir etwas durch den Kopf: Manchmal gerät das Future of Humanity Institute heftig unter Beschuss, ihm wird vorgeworfen, dass es „technologiefeindlich“ sei, im Grunde wird es als luddistisch beschimpft. Ich finde das amüsant, denn es herrscht in vielen Aspekten unseres Denkens eine starke transhumanistische Unterströmung. Es gibt so eine Intuition, die sagt, dass es eine natürliche Ordnung der Dinge gibt und dass die Menschheit diese natürliche Ordnung nicht unterbrechen darf. In Ikarus findet sich dieses Denken gewissermaßen verkörpert. Er unternimmt etwas Ehrgeiziges und verbrennt sich dabei. Ich würde mir also dieses Problem anschauen, es auseinanderpflücken und fragen: „Welche Ergebnisse sind zu erwarten, und wie gut oder schlecht sind diese Ergebnisse?“ „Gut“ oder „schlecht“ sollten dabei nicht nur auf dem beruhen, was die Natur uns gegeben hat. Das ist jetzt eine umständliche Art zu sagen, dass bestimmte Technologien wie die Anti-Aging-Technologie als Beispiele angeführt werden, wenn es um die Hochmut-Deutung geht, indem behauptet wird, es sei lächerlich, dass der Mensch daran arbeitet, den Tod zu heilen; es sei unnatürlich. Es sei der Gipfel der Hybris.

CBE: Richtig.

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ASB: Ich bin eher der Ansicht, dass man erst einmal eine Reihe von Gedankenexperimente dazu anstellen sollte. Möchte man das wirklich so hinnehmen? Nick Bostrom, der Direktor des Future of Humanity Institute, und Research Fellow Toby Ord wenden einen klassischen Umkehrtest an: Stell Dir den Status quo umgekehrt vor. Stellen wir uns also vor, wir lebten in einer Welt, in der jede Generation fünf Jahre länger lebt als die vorhergehende. Doch leider entspricht dies nicht der naturgegebenen Ordnung der Dinge. Wir könnten in jeder Generation eine Billion Dollar einsparen, wenn wir einen Euthanasieplan aufstellen würden. Würde man aber tatsächlich alle Menschen Ende achtzig töten wollen, nur um Geld zu sparen? Kein Mensch würde so etwas tun. Es gälte als absolut inhuman.
Auf der anderen Seite, wenn wir diese eine Billion Dollar in die Anti-Aging-Forschung investieren würden, könnten wir damit in jeder Generation eine fünf Jahre längere Lebenszeit erreichen. Doch die Leute würden kurzerhand sagen, das sei lächerlich. Es scheint also seltsam, dass diese beiden Gedankenexperimente unterschiedliche Antworten nach sich ziehen. Es scheint, als seien wir bei der Beantwortung dieser Frage in einer vergleichbaren Situation.

CBE: Die Möglichkeit eines Double Bind ist in diesem Falle offenbar vollkommen absurd. Wie steht es mit der Möglichkeit, dass diese Angst vor der Hybris wichtige biologische und technologische Fortschritte verhindern könnte? Ich finde es interessant, dass es nicht nur in Deinem Institut, sondern in der existenziellen Risikoabwägung überhaupt einen ausgeprägten Zug transhumanistischen Denkens gibt. Wenn wir davon ausgehen, dass es Neandertaler gab und die Neandertaler ausstarben, weil sie ihr Leben nicht in derselben Weise zu meistern wussten wie wir als Homo sapiens, inwieweit werden dann Post-Menschen „wir“ und wir zu „Neandertalern“? Und wohin bringt einen das, als Person, die die Menschheit verteidigt? Bleibt man dabei, die „Menschheit“ zu retten, oder akzeptiert man lieber, dass sie sich in etwas anderes transformiert hat?

ASB: Wenn die Menschheit sich transformieren würde, in etwas anderes, würde ich dem nicht notwendigerweise ablehnend gegenüberstehen, das hängt aber von der Art der Transformation ab. Wenn man sagt, die „Menschheit verteidigen“, möchte man auch wissen, wie die fundamentalen Werte, die wir dem Leben zuschreiben, aussehen. Was macht das Leben lebenswert? Wir glauben, dass die Menschheit einen Wert besitzt, und wir glauben, dass das menschliche Leben Wert besitzt. Wir denken auch, dass die Tiere einen Wert besitzen, oder? Wir glauben, es sei moralisch verwerflich, Tiere zu quälen. „Wert“ ist also nicht nur auf den Homo sapiens beschränkt. Er erstreckt sich auch auf weniger entwickelte Lebensformen und vermutlich ebenso auf höher entwickelte.

CBE: Du sprichst von dem Zusammenleben von Mensch und Tier?

ASB: Ja, genau.

CBE: Ich behaupte mal, dass die Lebensqualität und die Zufriedenheit der Tiere überall auf der Welt zurückgegangen ist. Wie viel Platz räumst Du in Deinem Denken solchen Dingen wie Glück und Kummer im Hinblick auf das Überleben der Menschheit ein?

ASB: Im Idealfall sollte es genau darum gehen. Unter dem Vorbehalt natürlich, dass die Menschheit im Zustand des Glücks überleben sollte. Ich denke, dass das Zusammenleben von den physischen Voraussetzungen her möglich ist. Tiere leiden nicht unbedingt deshalb, weil es uns gibt. Sie leiden, weil unsere ökonomischen und politischen Strukturen zulassen, dass es so etwas wie industrielle Tierhaltung gibt, Umweltschädigungen aller Art sowie andere Dinge, die für das Wohlergehen der Tiere sehr schlimm sind. Ich glaube nicht, dass derartige Dinge für das Leben der Menschen unabdingbar sind. Ich glaube, es könnten alternative Regelungen gefunden werden, in denen die Tiere von der Existenz des Menschen profitieren würden. Zu den im Augenblick eher kontrovers geführten Debatten gehört die Frage, ob der Mensch in das Leiden der Wildtiere eingreifen soll.

CBE: Richtig.

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ASB: Die Idee, dass wir Wildtiere mithilfe der Gentechnik so verändern, dass die einen nicht zur Beute der anderen werden, ist offensichtlich überaus theoretisch und könnte schlimme Auswirkungen auf das Ökosystem haben. Deshalb schlägt das auch niemand ernsthaft vor. Aber als Gedankenexperiment taugt es vorzüglich, um unsere Intuitionen darüber, was an der Natur wertvoll und was wertvoll an den Elementen eines Ökosystems ist, voneinander abzugrenzen.

CBE: Eine Frage, die vor sechs oder sieben Jahren gestellt wurde, lautete: Sollen wir die Pandas aussterben lassen? Wenn Pandas deprimiert sind, fressen sie mehr, und das eine wie das andere führt zu einem Nachlassen der Libido, sie wollen sich dann nicht mehr fortpflanzen. Ich glaube einfach, dass es total abgefuckt ist, dass wir den Pandas diese Entscheidung abnehmen: Sind sie nicht zu einem gewissen Grad deshalb deprimiert, weil sie auf einem Planeten leben, wo wir an der Spitze dieser Hierarchie der Entscheidungsfindung stehen? Inwieweit beziehst Du Aspekte wie das Machtungleichgewicht in Deine Überlegungen ein?

ASB: Unsere Beziehung zur künstlichen Intelligenz wird sich voraussichtlich so gestalten, dass wir über die Art dieser Intelligenz entscheiden und sie erschaffen. Wir Menschen werden also hoffentlich Wirkung auf unsere Nachfolgerinnen und Nachfolger haben. Für die Pandas stellt sich die Situation anders dar: Wo sie uns als eine von außen kommende Kraft erfahren, gleicht dies wahrscheinlich mehr einer Invasion von Aliens, die entscheiden, was sie mit uns zu tun gedenken.

CBE: Genau. Wer also trifft die Entscheidungen?

ASB: Manche Leute sind der Ansicht, dass das menschliche Leben eigentlich nicht lebenswert sei und dass Existieren Leiden heißt. Nach Meinung des Philosophen Derek Parfit jedoch sollten wir, auch in einer Welt, in der wir glauben, dass die menschliche Existenz „netto-schlecht“ ist, weiterhin bestrebt sein, existenzielle Risiken abzuwenden – aus dem einfachen Grund, dass diesem Leben eine Möglichkeit zukommt, in der Zukunft einen positiven Wert anzunehmen. Es gibt also die Option, etwas zu erschaffen, das in der Zukunft zu wirklich erstaunlichem Wohlergehen führen könnte. Es lohnt sich also ein Stück weit, dies vorauszusetzen. Es ist darüber hinaus ein Grund, das Aussterben des Menschen zu verhindern. Ich bin mit dieser Haltung einverstanden. Ich stelle mir vor, dass es in der Zukunft Wesen gibt, die bei Weitem mehr Wohlergehen erleben, als uns das im gegenwärtigen Stadium gegeben ist. Und das ist durchaus etwas, wofür man arbeiten kann.

CBE: Einverstanden – aber natürlich nur von der Position aus, dass ich ein solches höher entwickeltes Wesen bin. Du hast gesagt, dass die Menschen wenig Talent besitzen, für das Wohlbefinden künftiger Generationen Verantwortung zu übernehmen. Aber offenbar scheinst Du doch die Haltung einzunehmen, nicht nur für Dich selbst, sondern für alles, was da kommt, verantwortlich sein zu wollen. Das Institut hat sich zum Ziel gesetzt, über die Menschheit in zwanzigtausend Jahren nachzudenken, anstatt nur zwanzig oder fünfzig oder einhundert Jahre in die Zukunft zu blicken. Ich denke noch immer in einer sehr egoistischen Perspektive! Vor kurzem wurde so eine Google-Superintelligenz vorgestellt und sie wurde gefragt: „Was ist der Sinn des Lebens?“ Und sie antwortete: „Für immer zu leben.“ Das ist eine Antwort, womit ich was anfangen kann – leben, um immer weiter zu leben.

ASB: Nick hat einen Artikel geschrieben mit dem Titel „Astronomical Waste: The Opportunity Cost of Delayed Technological Development“¹. Ich liebe diesen Aufsatz, denn zunächst entwickelt er darin das Argument, dass der Nutzen der Technik umso größer ist, je schneller sie sich entwickelt, weit größer, als es der Mensch im Allgemeinen begreift. Ist man der Ansicht, eine wachsende Zahl von Einzelexistenzen mit hohem Wohlergehensniveau sei eine gute Sache, dann bedeutet jede Sekunde, die man bei der Kolonisierung des Weltraums zu spät ist, potenziell einen immensen Verlust. Doch dann rechnet Nick vor, dass, wenn sich der technologische Fortschritt über zehn Millionen Jahre hinziehe und dabei die Chance einer möglichen Weltraumkolonisation auch nur um ein Prozent anstiege, sich dies aus einer derartigen Perspektive womöglich lohnt. Wir glauben, dass die Technik wirklich, wirklich gut für die Menschheit ist, aber sie bringt all diese Fallstricke mit sich, die existentielle Risiken darstellen könnten. Das heißt, es tritt eine Spannung auf zwischen den Leuten, die so bald wie möglich in den Genuss der Vorteile solcher Technologien kommen wollen, und anderen, die glauben, dass kommende Generationen den Vorrang haben sollten.

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CBE: Dieser Ansatz steht akzelerationistischen Theorien entgegen, welche die Expansion befürworten, sowie dem Mooreschen Gesetz, eine Theorie aus der Computerwelt, wonach sich die Zahl der Transistoren auf einem Mikrochip alle zwei Jahre verdoppelt. Nun ja, er erkennt das Mooresche Gesetz zwar an, sagt aber, dass eine Verlangsamung Vorteile mit sich bringt.

ABS: Kann sein. Die Dinge sind kompliziert. Mit der Zeit scheint alles besser zu werden. Die Gewalt nimmt ab. Die Menschenrechte spielen in immer größeren Teilen der Welt eine Rolle, der Feminismus, die Alphabetisierung – wir haben ziemliche Fortschritte gemacht. Möglich, dass dieser Fortschritt zum Teil an technologische Entwicklungen gebunden ist. Wenn die Verlangsamung der technologischen Entwicklung, so die Behauptung, mehr Sicherheit bringt, dann ist es womöglich gut, für ihre Umsetzung zu sorgen. Aber es ist unklar, ob dies richtig ist oder nicht. Es könnte auch sein, dass eine Verlangsamung der technologischen Entwicklung im Hinblick auf ihre tatsächlichen weltweiten Auswirkungen schlecht ist, zumal wenn man bedenkt, wie Technologien miteinander interagieren. Bestimmte Technologien wird man in ihrer Entwicklung beschleunigen wollen, denn sie mindern die Risiken anderer Technologien. Ein Programm zur Ablenkung von Meteoriten aufzusetzen, ist einfach nur gut. So etwas möchten wir so schnell wie möglich. Und auch die Weltraumkolonisierung möchten wir so schnell als möglich haben. Impfstoffe gehören auch zu den Dingen, die wir so schnell wie möglich bekommen wollen. Es gibt also durchaus Technologien, die nicht nur uns Vorteile bringen, sondern auch für künftige Generationen von Nutzen sein werden. Das Vorantreiben solcher Technologien scheint also lohnenswert zu sein. Es gibt diese Spannung, von einer moralischen Warte aus gesehen, zwischen einer egoistischen Haltung, die jetzt im Moment über all diese erstaunlichen medizinischen Technologien verfügen möchte, und den Risiken, die künftige, richtig radikale Technologien bergen könnten, wenn wir zu schnell und ohne weiter nachzudenken voranschreiten.

CBE: In einem früheren Gespräch haben wir uns über den Film Der Marsianer vom 2015 unterhalten, und Du hast eine Idee vorgebracht, die auch im Zentrum des Videos steht, an dem ich gerade arbeite: Der Utilitarist als Protagonist. Darüber haben wir zunächst in Bezug auf Romilly in Interstellar vom 2014 gesprochen, und Du hast gesagt: „Ich weiß auch nicht, warum der Utilitarist immer den Schwarzen Peter zugeschoben bekommt.“ Romilly wird getötet. Du magst aber den Film Der Marsianer, denn er schlägt den entgegengesetzten Weg ein. Dort wird das Leben von vier Menschen aufs Spiel gesetzt, um den Marsianer zu retten. Veranlasst wird dies aufgrund der Fortschritte, die er auf dem Mars gemacht hat, denn rettet man ihn, wird dies der gesamten Menschheit zugutekommen. Wenn sie sich genötigt sieht, den Mars zu besiedeln, wird sie von diesen Informationen profitieren. Die Hybris eines Erfinders und Futuristen wie Raymond Kurzweil, oder meine eigene, oder die irgendeiner beliebigen Person, oder der Versuch, der Sonne zu nahe zu kommen, liefert demnach womöglich bestimmte Informationen. Wenn also eine Zuschauerin oder ein Zuschauer aufmerksam genug ist, wird sie oder er sich sagen: „Oh Gott, Ikarus’ Flügel haben angefangen zu schmelzen, als er einen bestimmten Abstand zur Sonne hatte. Aber bis zu diesem Punkt ist eigentlich alles in Ordnung gewesen, vielleicht können wir es bis dahin mal ausprobieren.“ Matt Damon hat ja alles aufgeschrieben …

ASB: Ja, das gefällt mir wirklich. Das Problem mit dem Utilitarismus liegt, glaube ich, darin, dass er so schwierig in die Praxis umzusetzen ist. Auf eine Weise zu handeln, die traditionell als „ethisch“ angesehen wird, ist gemeinhin die richtige Entscheidung. In dem „Straßenbahn-Problem“ genannten Gedankenexperiment haben wir alle Beispiele versammelt; ein Zug ist außer Kontrolle geraten, und wenn man die dicke Person auf die Gleise stößt, um ihn zum Halten zu bringen, hat man fünf Personen gerettet. Wird man die dicke Person auf die Gleise stoßen? In einem Gedankenexperiment gibt es keine Konsequenzen. Es funktioniert wie eine isolierte Box. Aber in der wirklichen Welt würde das Leben in einer Gesellschaft, in er es akzeptabel wäre, eine Person auf die Gleise zu stoßen, kein gutes Ende nehmen.

CBE: Es verändert das Wertesystem und macht die Rechnung auf, wer für wert erachtet werden soll und wer nicht. Ich war so froh, dass Du mich auf das Straßenbahn-Problem gebracht hast. Ich habe noch ein bisschen weiter gebohrt und bin auf die Idee mit dem „fetten Bösewicht“ gestoßen – die Vorstellung, dass die dicke Person auch diejenige ist, die die fünf Menschen auf die Gleise gefesselt hat. Ist es ethisch gesehen gerechtfertigt, diese Person auf die Gleise zu stoßen, um die anderen fünf zu retten?

ASB: Die meisten Leute gehen davon aus, dass es richtig ist.

CBE: Was denkst Du?

ASB: Ich denke, dass es in beiden Szenarien richtig ist.

CBE: Wirklich??? Die eine Person auf die Gleise zu stoßen???

ASB: In der total isolierten, absolut sterilen Welt des Gedankenexperiments, ja. Ich glaube, dort wäre es ein völlig richtiges Handeln. Im wirklichen Leben aber würde ich dies nicht tun.

CBE: Du stehst da vor dem Problem, bei dem in der sterilen Welt eines vorgestellten Szenarios die richtige Antwort lautet: tu es. Aber in dem ganzen verzwickten Durcheinander der Realität … bildet dies einen Ausgangspunkt für Fehler. Eine Schlussfolgerung, die für mich auf große Konzerne oder Hypersysteme wie Regierungen zutrifft, oder was auch immer aus der Verbindung dieser beiden hervorgehen mag. Großgebilde wie diese arbeiten immer unter diesem Schirm, der Verheißung eines höheren Wohls, in einem vorgestellten Szenario, in einer perfekten Blase. Entscheidungen, die auf diese Weise getroffen werden, verursachen in der Realität eine Lawine von Problemen und Szenarien, die die Menschen gar nicht mehr bewältigen können.

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ASB: Haben wir bei unserem letzten Gespräch über Größenordnung und Unempfindlichkeit gesprochen?

CBE: Nein.

ASB: Okay. Ein Argument lautet also, dass wir sozusagen utilitaristisch handeln sollen, weil Utilitarismus korrekte Ergebnisse bringt. Ein anderes Argument geht davon aus, dass, selbst wenn Utilitarismus richtig ist, utilitaristisches Handeln Dich nicht auf den richtigen Weg führt. Also ist es in der Praxis immer noch am besten, ein guter Mensch zu sein – stoße keine Leute auf die Gleise und tue, was Dir gut erscheint. Ein Argument spricht jedoch dagegen: Zu tun, was einem gut erscheint, ist nicht gerade das, wofür der Mensch im evolutionären Sinne gemacht ist. Das wird am deutlichsten, wenn wir über Größenordnung und Unempfindlichkeit sprechen. PsychologInnen haben in Gesprächen mit zahlreichen verschiedenen Personen die Frage gestellt: „Was wären Sie bereit zu zahlen, um 2.000 Vögel vor einer Ölverschmutzung zu retten?“ Die Antwort lag durchschnittlich bei ungefähr 80 Dollar. Dann fragten sie eine andere große Gruppe: „Was wären Sie bereit zu zahlen, um 200.000 Vögel vor einer Ölverschmutzung zu retten?“ Die Antwort lag bei durchschnittlich 80 Dollar.
Die Menschen sind evolutionär gesehen nicht dazu gemacht, in großen Zahlen zu denken. Als wir noch JägerInnen und SammlerInnen waren, hatte niemand die Fähigkeit, eine große Zahl an Menschen zu beeinflussen. Das ändert sich langsam, im Hinblick auf die gewaltige Anzahl der wahrscheinlich in der Zukunft lebenden Menschen, aber auch, was die große Zahl der gegenwärtig lebenden Menschen betrifft. Wenn wir also eine Politik machen, die das Leben von Tausenden oder gar Millionen Menschen betrifft, wird es potenziell mehr Raum geben für jenes utilitaristische Kalkül, das uns bei der Frage, wie wir diese Welt verbessern können, helfen mag.

CBE: Du hast einmal einen möglichen Konflikt zwischen intergenerationellen Problemen und persönlichen Problemen beschrieben. Wie groß ist die Bedrohung der Menschheit durch den Individualismus?

ASB: Ziemlich groß, wahrscheinlich. Besonders, da die Technik immer mächtiger wird. Es hängt davon ab, würde ich sagen, was Du mit Individualismus meinst …

CBS: Im landläufigen, von den Medien propagierten Sinn: dass jedes Individuum einzigartig und besonders ist; in dem Sinn, dass seit den 1980er-Jahren jede Generation als „Ich-Generation“ bezeichnet wurde; und Individualismus auch als Konzept, wie Humanismus.

ASB: Er trägt jedenfalls nicht gerade zur Nächstenliebe bei, und das ist Schade. Ich weiß nicht, vielleicht ermutigt er die Menschen dazu, kreativer zu werden, größere Risiken bei dem Bestreben einzugehen, das, was sie für ein sinnvolles Leben halten, auch zu erreichen.

CBE: Von Deiner Vogel-Ölverschmutzungs-Analogie ausgehend gehe ich einen Schritt weiter und stelle mit leichter Hand eine Verknüpfung zwischen Individualismus und Kapitalismus her. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kapitalismus irgendwann andere große existenzielle Gefährdungen wie den Klimawandel oder die künstliche Intelligenz in den Hintergrund drängt? Wie groß ist die existenzielle Gefährdung durch den Kapitalismus selbst?

ASB: Er ist ganz offenbar kein ideales System, soviel ist sicher. Der Kapitalismus stellt ein existenzielles Risiko dar, insofern er zu etwas führt, das auf Dauer ein Übel bleiben würde. Er könnte, falls er sich auf der Erde irgendwie als dauerhaftes System etablieren sollte, direkt in eine KI-Katastrophe oder einen Klimawandel führen, und damit zur Auslöschung des Menschen. Ich mache mir, würde ich sagen, mehr Gedanken über den Individualismus als über den Kapitalismus. Es ist viel besser, die aus dem Individualismus entstehenden Fragen anzupacken, als die globale Weltordnung verändern zu wollen. Natürlich wäre es großartig, wenn wir den Kapitalismus durch etwas anderes ersetzen könnten, aber alles hat seine Kosten und Vorteile. Es ist unklar, was danach geschehen würde.

CBE: Es steht ja zur Debatte, ob das System, das den Kapitalismus ablöst – irgendein System, zu dem wir wegen des Scheiterns des Kapitalismus übergehen müssten – im Ergebnis besser ist, mehr oder weniger erfolgreich ist?

ASB: Dass irgendein globales System auf Dauer besteht, ist wohl eher unwahrscheinlich. Der Kapitalismus existiert bei Licht betrachtet gerade einmal seit ein paar hundert Jahren. Wir haben eine ganze Menge unterschiedlicher Dinge ausprobiert. Wir haben in Jäger-und-Sammler-Horden gelebt. Wir haben in Reichen gelebt. Wir haben in allen möglichen Systemen gelebt. Wenn wir weit aus unseren engen Zusammenhängen herauszoomen, erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass sich, was wir im letzten Jahrhundert angetroffen haben, für die nächsten zwanzig- oder dreißigtausend Jahre als dauerhaftes System etablieren kann. Der Kapitalismus stellt eines der großen Probleme dar, aber er ist ein Problem, das aus meiner Sicht lieber kommende Generationen angehen sollten. Ich möchte mich mit Problemen befassen, die vor allem darüber entscheiden, ob es in Zukunft überhaupt noch kommende Generationen geben wird.

CBE: Glaubst Du, dass wir in einer einzigartigen Zeit leben?

ASB: In einer unglaublich einzigartigen Zeit.

CBE: Warum?

ASB: Vor siebzig Jahren haben wir die Atombombe entdeckt. Das ist ein geschichtlicher Einschnitt. Wir gehören zu den ersten Generationen, die in einer Welt leben, in der wir uns selbst auslöschen können. Ich kann mir vorstellen, dass in den nächsten paar hundert Jahren eine neue Technologie entsteht, die die menschlichen Bedingungen radikal verändert: Technologien, die das Potenzial haben, den menschlichen Körper umzugestalten und das Aussehen von Gesellschaften zu verändern. Wir besitzen das Potenzial für andere Technologien, die extrem gefährlich werden und zu den besagten existenziellen Gefährdungen führen könnten. Wenn wir diese Übergangsperiode überleben – die Zeit, in der diese Technologien entstehen und wir damit umzugehen lernen –, dann gibt es eine Chance auf eine wirklich glänzende und lange währende Zukunft. Ich bin nicht der Einzige, der glaubt, dass unser Jahrhundert das Jahrhundert ist, in dem sich entscheidet, ob wir es schaffen oder ob wir scheitern, und dass wir in einer äußerst speziellen Zeit leben. Das macht es umso dringlicher für uns, an diesen Problemen zu arbeiten. Denn diese Gelegenheit werden künftige Generationen – ungeachtet, ob die Probleme gelöst werden oder weiter bestehen – nicht mehr haben.

¹ Dt.: „Astronomische Verschwendung. Die Opportunitätskosten verspäteter technischer Entwicklung“. Siehe http://www.nickbostrom.com/astronomical/waste.html

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CÉCILE B. EVANS ist eine belgisch-amerikanische Künstlerin und lebt in London. Sie hat im Jahr 2012 den Emdash Award (jetzt Frieze Artist Award) erhalten und 2013 den Preis PushYourArt, der die Produktion einer neuen Videoarbeit für das Palais de Tokyo, Paris, beinhaltete. Sie ist die Urheberin von AGNES, dem ersten digitalen Werk für die Serpentine Galleries (kuratiert von Ben Vickers) – ein Projekt, das international über verschiedene Plattformen hinaus gewachsen ist.
Kommende Einzelausstellungen finden in der Kunsthalle Winterthur, CH (2016), De Hallen Amsterdam, NL (2016) und der Kunsthal Aarhus, DK (2016) statt. 2016 nimmt sie an der 9. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst und der Moscow International Biennale for Young Art teil. Aktuelle und kommende Ausstellungen sind zu sehen im MOCA Cleveland, US (2016), Bielefelder Kunstverein, DE (2016, Einzelausstellung), 20th Biennale of Sydney, AU (2016), Kunsthalle Wien (2016). 2014 hatte sie eine Einzelausstellung in der Seventeen Gallery, London und war nominiert für den Future Generation Art Prize (PinchukArtCentre, Kiew). Im Jahr 2015 bekam sie den Andaz Award. Sie nahm an folgenden Gruppenausstellungen teil: Inhuman (2015, Fridericianum, Kassel, DE) TTTT (2014, Jerwood Visual Arts Foundation, London), La Voix Humaine (2014, Kunstverein München, DE) Phantom Limbs (2014, Pilar Corrias Gallery, London) und CO-WORKERS (2015, Musée d’art Moderne, Paris). Ihre Filme wurden an folgenden Orten gezeigt: New York Film Festival (Projections), US; ICA London; V&A, London; BFI, London und Hamburg Film Festival, DE. Eine Reihe von Stipendien haben ihre Arbeit unterstützt, unter anderem vom Wysing Arts Centre, Cambrige, UK; von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Schering Stiftung und vom Arts Council England.

ANDREW SNYDER-BEATTIE ist Forschungsdirektor am Future of Humanity Institute der University of Oxford, wo er die Forschungsaktivitäten des Instituts, die Personaleinstellung und das akademische Fundraising koordiniert. In seiner Zeit am FHI hat Andrew Snyder-Beattie über 2,5 Millionen Dollar für die Forschungsförderung erzielt, die FHI-Amlin-Zusammenarbeit für Industrieforschung geleitet und Artikel für The Guardian, Ars Technica und das Bulletin of the Atomic Scientists, das insgesamt über 500.000 LeserInnen hatte, geschrieben. Sein persönliches Forschungsinteresse beinhaltet momentan das Ökosystem und die pandemische Modellierung, anthropische Überlegungen zum Schatten und existenzielle Risiken. Er hat einen Master of Science in Biomathematik und hat in vielen unterschiedlichen Gebieten, wie beispielsweise Astrobiologie, Ökologie, Ökonomie, Risikobewertung und institutioneller Ökonomie, geforscht.

ABBILDUNGEN: zweite von oben: Andrew Snyder-Beattie, Courtesy of the Future of Humanity Institute, Oxford; dritte von oben: Pieter Bruegel der Ältere: Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, ca. 1555–68, heute als frühe Kopie von Bruegels Original vermutet; sechste von oben: Courtesy of the Future of Humanity Institute, Oxford