La biblioteca de Babel

EDUARDO VIVEIROS DE CASTRO, DÉBORAH DANOWSKI, MICHELLE SOMMER, DANIEL STEEGMANN MANGRANÉ
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Diese Zusammenkunft, die an einem spätsommerlichen Nachmittag im Jahr 2014 stattfand, vereinte Eduardo Viveiros de Castro, Déborah Danowski, Daniel Steegmann Mangrané und Michelle Sommer in einer formlosen, vierstimmigen Polyphonie, die Anthropologie, Philosophie und künstlerische sowie kuratorische Praxis verhandelt. Der Kontext der Diskussion, nach der Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges aus dem Jahr 1941 benannt, ist das internationale Colloquium The thousand names of Gaia: from the Anthropocene to the Age of the Earth, das in der ersten Septemberwoche 2014 in Rio de Janeiro stattfand und von Bruno Latour, Déborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro konzipiert wurde. Danowskis und Viveiros de Castros’ Buch Há mundo por vir? Ensaio sobre os medos e os fins erschien zur gleichen Zeit. (Die englische Übersetzung Is there a world to come? An essay on fears and ends in der Übersetzung von Rodrigo Nunes wird noch 2016 bei Polity erscheinen.)

Als SprecherInnen dieser gemeinsamen Erfahrung – als zwei von mehreren möglichen BibliothekarInnen – schlugen Daniel und Michelle vor, das Gespräch mit einer Untersuchung der Thematik des Weltendes in der zeitgenössischen Kultur zu beginnen. Es folgte eine ausholende Spekulation darüber, ob Hoffnung auf das Überleben einer Spezies bestünde, die zwischen der Aussicht auf den Klimawandel, Fantasien einer Kolonialisierung des Weltraums und utopischem technischen Fortschritt eingekeilt ist: das Anthropozän in den Medien, die jüngste Appropriation des Begriffs durch die Kunstwelt und potenzielle theoretische Weiterführungen eines „amerikanisch-indianischen Perspektivismus“, aufgrund dessen Claude Lévi-Strauss Viveiros de Castro einmal als Begründer einer neuen Schule der Anthropologie beschrieben hat, weil er über Kunst reflektiert hat.

Während wir fröhlich die Ankunft eines „thermodynamischen Messias“ erwarteten, stellten wir uns vor, dass Wladimir Majakowski lächelnd auf unsere stolzen Versuche herabblickte, angesichts des Weltendes einen „freudigen Pessimismus“ zu bewahren. Wenn der russische Dichter dachte, es sei besser, an Wodka als an Langeweile zu sterben, so ersetzten wir den Wodka mit Cachaça, um bei der provisorischen Schlussfolgerung zu landen, dass es besser ist, an Cachaça zu sterben als an einer Pestizidvergiftung, während man genetisch manipuliertes Monsanto-Saatgut ausbringt.

(Beim Öffnen des Notizbuchs, in dem die Fragen für das Interview stehen, fällt die abgerissene Eintrittskarte vom Vorabend für Christopher Nolans Interstellar (2014) heraus. Déborah hatte den Film bereits in der Woche zuvor gesehen.)

Eduardo Viveiros de Castro: Also, endet die Welt wie in Interstellar?

Michelle Sommer: Nein. Natürlich retten uns die Amerikaner am Ende.

Das war der Ausgangspunkt eines Gesprächs über das Ende der Welt in der zeitgenössischen Kultur, aus dem im Folgenden Auszüge wiedergegeben werden. „Das Ende der Welt ist anscheinend ein unerschöpfliches Thema – zumindest bis es eintritt.“ Das sind die ersten Zeilen von Eduardo Viveiros de Castros und Déborah Danowskis Is There a World to Come? Das Buch versucht die zeitgenössischen Vorstellungen hinsichtlich des Weltendes quer durch seine Manifestationen zu kartografieren, welche die unterschiedlichsten Felder – von der Literatur über das Kino bis hin zur Philosophie – umfasst. An einem Ende des Spektrums steht Lars von Triers Melancholia (2011), ein Film, der uns ein Ereignis präsentiert, das sämtliche Ereignisse beendet (die Kollision der Erde mit einem absoluten Außen); am anderen Ende steht Cormac McCarthys The Road (2006), der die Reise eines Vaters und seines Sohns durch eine Landschaft erzählt, in der eine „übrig gebliebene“ Menschheit eine verschwundene Welt überlebt hat. Es scheint, als schwankten wir bei der Darstellung des Weltendes notwendig zwischen manischem Überschwang – es gibt immer irgendeine Hoffnung auf das Überdauern der Spezies und ihrer Fähigkeit Hindernisse zu überwinden – und melancholischem Schwermut.

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Über das Weltende, Ängste und solcherlei Dinge

Michelle Sommer: Gibt es noch einen Funken Hoffnung auf eine Intervention seitens der Menschheit, die den Umschwung in der terrestrischen Biosphäre verhindern könnte? Eine Art Wendepunkt in unserer gegenwärtigen Lage?

Eduardo Viveiros de Castro: Einen Wendepunkt zum Guten?

MS: Ja, einen Wendepunkt zum Guten. Ein Happy End.

EVdC: Außer der Wiederkunft des Herrn?

[Gelächter]

EVdC: Ja, wir können auf einen Messias hoffen, der aus dem Himmel herabsteigt, ein thermodynamischer Messias, der sämtliches Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre saugt, Afrika umweltbewusst werden lässt und São Paulo den Regen bringt. Abgesehen von einem solchen Wunder, nun ja, gäbe es vielleicht Hoffnung, aber es müsste schon etwas vollkommen anderes eintreten. Die fehlende Übereinstimmung unter den größten Mächten der Erde könnte in einem positiven Licht gesehen werden: Damit ist klar, dass nicht Verhandlungen auf höchster Ebene zwischen Nationalstaaten zu einem Konsens führen, wie wir uns aus dieser Notlage befreien. Vielmehr ist es nötig, dass es auf der gesamten Welt zu einem dezentral geführten Aufstand kommt.

MS: Meine unmittelbare Reaktion darauf wäre, an irgendeine Art von politischer Aktion auf globaler Ebene zu denken. Doch ich möchte auf den Film Interstellar zurückkommen. Der Angelpunkt des Films ist eine bedeutende Entdeckung in der Astrophysik, nämlich eines Wurmlochs, in dem die Macht liegt, die Situation von Grund auf zu verändern und die Menschheit zu retten. Wenn es also eine solche große, wahrhaft transformative Entdeckung geben könnte, worin könnte sie bestehen?

Déborah Danowski: Wir könnten Spekulationen über die Entdeckung der kalten Fusion anstellen, die uns das Überleben als Spezies sichern könnte. Doch die Technik existiert noch nicht wirklich, und Technologien erfordern in jedem Fall Materie. Das heißt, wir sind der Vorstellung eines Messias nahegekommen, von der Eduardo sprach: Es könnte sein, dass es eintritt …

EVdC: Einmal angenommen, solche utopischen technischen Fortschritte wären möglich, so scheint es mir, als wäre die kalte Kernfusion der entscheidende. Die Wahrscheinlichkeit, dass das in nächster Zeit passiert, ist jedoch äußerst gering. Außerdem, selbst wenn sich eine unerschöpfliche Energiequelle finden ließe, so haben wir doch noch immer eine Reihe von Problemen, die dadurch immer noch nicht gelöst wären – wie etwa die Vergiftung des Bodens durch agrochemische Stoffe oder die globale Erwärmung und noch einige mehr. Unsere heutigen Nahrungsmittel sind auf chemische Bomben aus Hormonen und Antibiotika angewiesen, und nichts davon wäre auch nur prinzipiell durch eine unerschöpfliche Energiequelle gelöst.

DD: Kommen wir auf den Film zurück. Die „rettende“ Technik, die die Spezies auf einen anderen Planeten führt, rettet letztlich gar nichts. Die immer wieder aufflackernde Idee, die Erde zu verlassen, ist absurd: dass es leichter sein soll, zu einem anderen Planeten zu reisen, nach Wasser zu suchen, auf dem Mars eine Atmosphäre herzustellen, anstatt weiter in den Ökosystemen der Erde zu leben, die immer lebensfeindlicher werden. Es ist sehr viel einfacher hierzubleiben und unsere Lebensweise zu reduzieren.

EVdC: Das ist ein entscheidender Punkt: All die Fantasien der Kolonialisierung des Weltraums sind letztlich Fantasien, die sich vor der Veränderung drücken. Sie handeln davon, sehr weit zu gehen, nur um genau da weiterzumachen, wo wir hier aufgehört haben. Wie können wir fortfahren, alles kaputtzumachen? Indem wir auf den nächsten Planeten ziehen. Dort kann man dasselbe tun, nur dass man es an einem anderen Ort tut. Es ist die Fortschreibung der Logik, mit der die amerikanischen Kontinente kolonialisiert wurden. Mehr Amerika gibt es nicht? Mehr Neue Welt ist nicht zu haben? Wir brauchen eine neue Neue Welt, suchen wir sie uns also auf einem anderen Planeten, wenn dieser hier fertig ist. In dem Zyklus, der um 1500 begann, fällt Europa in die beiden Amerikas ein, und eine völlig neue Welt wird entdeckt, deren Bodenschätze, Sklavenarbeit, Feldpflanzen und so weiter Europa und seine Wirtschaft fünfhundert Jahre lang versorgen. Also heißt es jetzt: Auf zu einem anderen Planeten und dasselbe noch einmal! Rotten wir die Marsianer aus, pflanzen wir unsere Kulturpflanzen an, finden wir einen Weg, Wasser aus dem Mond zu extrahieren. Das wird nicht funktionieren, und zwar aus Gründen, von denen nur zwei erwähnenswert sind: Die Technik dafür existiert nicht, und es gibt nur äußerst wenige bewohnbare Planeten.

MS: Letzten Endes ist es das, was wir jetzt gerade erleben: die erneute Kolonialisierung Amerikas.

EvDC: Ja, genau.

DD: Es lässt sich leichter in allen Wüsten der Erde überleben als auf jedem uns bekannten Ort jenseits unseres Planeten.

EvDC: Der Mars, theoretisch der uns nächste und damit am leichtesten zu erreichende Ort, ist definitiv weniger bewohnbar als die Sahara, die Atacamawüste oder die Wüste Gobi. Es ist leichter, die menschenfeindlichste Gegend auf unserem Planeten zu bewohnen, als einen anderen Planeten so zu modifizieren, dass wir ihn bewohnen könnten. Die Erde wird natürlich nicht aufhören zu existieren. Eine ungeheure Menge an Organismen wird unter günstigen Bedingungen weiterleben, Bakterien und eine Anzahl von Tierarten. Auch die Welt der Menschen hört nicht einfach auf; sie wird schlimmer. Zum Beispiel die arme Landbevölkerung in Bangladesch – für sie ist die Welt bereits zu Ende. Ihr Land wird bereits von den steigenden Weltmeeren verschlungen, von riesigen Fluten, die alljährlich mit dem Monsun kommen. Die Menschen dort führen eine elende Existenz. Das Beste, das ihnen widerfahren kann, ist, dass ihre Kinder in einem Sweatshop von Zara arbeiten, und dann dürfen sie sich glücklich schätzen. In dieser Situation, die für uns ein Ende der Welt im metaphorischen Sinn darstellt, befindet sich die Hälfte der Weltbevölkerung, vielleicht mehr als die Hälfte.

DD: Mit anderen Worten, was passiert, ist eine weltweite Verallgemeinerung dessen, was bereits heute in Teilen der Welt vor sich geht.

EvDC: Ich glaube wirklich an das Ende der Welt, an das Ende dieser westlichen Welt. Diese Welt begann im Jahr 1492 mit der Eroberung der amerikanischen Kontinente oder 1750 mit der Industriellen Revolution oder noch früher in Rom am Beginn unserer Zeitrechnung. Das hängt nur davon ab, wann man anfängt zu zählen. In jedem Fall handelt es sich um die Tradition, die wir westliche Kultur nennen, christlich, die ihren Ursprung im Mittelmeer hat, die vielleicht im Begriff steht, die Grenzen ihrer politischen Macht und ihres Einflusses zu erreichen.

Daniel Steegmann Mangrané: Doch es wird einen Moment geben müssen, an dem das Ganze kippt. Ich erinnere mich an ein Interview, in dem Eduardo gesagt hat, dass wir, falls wir überhaupt auf ein Wissen vertrauen können, dem indigenen Wissen vertrauen sollten, um in der Welt zu überleben, die auf uns zukommt, weil die indigenen Völker schon lange auf diesen Moment hin leben.

EvDC: Genau. Käme Gott heute zu uns und sagte: „Es gibt kein Erdöl mehr, keine Elektrizität und keine der Chemikalien, die ihr für alles benutzt“ – ereignete sich ein solches Wunder, wer würde überleben? Die indigenen Völker und all jene, die es ihnen gleichtun. Warum? Weil sie ohne das alles auskommen und überleben können. Wenn wir eine indigene Person und einen Harvard-Absolventen im Urwald des Amazonas aussetzen, wer von beiden überlebt? Natürlich die indigene Person.
Können wir behaupten, ein gutes Leben zu führen? Das kommt darauf an. Ich verstehe unter „indigen“ eine Beschreibung all jener Menschen, die unter nicht-luxuriösen Bedingungen überleben können. „Indigen“ ist der, der zurechtkommt, der sich begnügt, der mit dem auskommt, was ihm zur Verfügung steht. Ein Mensch ohne Instrumentarium, ohne alles, kann im Regenwald des Amazonas nicht überleben. Wenn sie jedoch indigen sind, so können sie sich Pfeil und Bogen machen und ein Feuer in Gang bringen. Die Armen sind die ersten, die von einer Umweltkrise betroffen sind. Doch wenn es wirklich schlimm wird, dann sind sie wahrscheinlich diejenigen, die am besten damit zurechtkommen und überleben. Sie sind an das Ende der Welt bereits gewöhnt. Sie wissen, was zum Leben in einer Welt nötig ist, die auseinanderfällt. Man muss nur in eine Favela in São Paulo gehen, um eine Vorstellung davon zu erlangen, wie es ist, in einer grässlichen Welt zu leben: schadstoffbelastet, ohne sauberes Wasser, gewalttätig, schmutzig, ohne Abwasserkanäle. Am Stadtrand von São Paulo ist die Welt bereits post-apokalyptisch. Und dann stellst Du die Frage: „Wird die Welt zu Ende gehen?“ Für diese Menschen ist die Welt schon zu Ende. Ein erheblicher Teil der menschlichen Population lebt bereits heute in einer Nach-Welt, in so etwas wie The Road.

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Über Nahtoderfahrungen

DSM: Mit Blick auf das indigene Denken erinnere ich mich an ein Interview mit Eduardo, in dem er von Nahtoderfahrungen als einer Möglichkeit für ontologischen Wandel spricht, als einer Art neuen Paradigmas.

EvDC: Es ist ein Quasi-Tod, das Quasi-Ereignis.

DSM: Also stellt sich die Frage: Ist die Katastrophe notwendig? Oder reicht der Nahtod?

EvDC: Betrachtet man die Geschichte, so war meines Erachtens die nukleare Krise der 1960er-Jahre eine Nahtoderfahrung. Heute haben wir den Eindruck, als wäre die atomare Bedrohung verschwunden, weil es eine starke politische Anti-Atomkraftbewegung gab und internationaler Druck schließlich zur Abrüstung, zur Entwaffnung dieser Bedrohung geführt hat. Dennoch existieren immer noch genügend Bomben und Raketen, um die Erde mehrfach zu zerstören. Die USA haben noch immer ein Atomwaffenarsenal, ebenso wie Israel, Pakistan und vielleicht der Iran.

DD: An diesem Punkt wird es kompliziert, denn wir könnten fragen: Wer sind die Handelnden auf beiden Seiten dieses Ereignisses? Dieser Nahtod – Nähe zu wem oder was? Dasselbe gilt für die Klimakatastrophe: Wer tötet beinahe und wer stirbt beinahe? Die gesamte Spezies? Inwieweit sind nicht alle davon betroffen? Inwieweit betrifft es auch andere Spezies? Es gibt keine einfachen Antworten. Wenn eine Jägerin oder ein Jäger mitten im Wald auf einen Jaguar trifft, dann kann man sagen, wer auf welcher Seite ist, wer ontologisch von wem gefangen wird. Doch bei der Klimakrise ist es jeder und keiner zugleich. Oder manche mehr als andere, einige vor den anderen …

MS: Die Klimakrise hat kein handelndes Subjekt.

EvDC: Die Klimakrise existiert nicht für jeden als ein Problem. Zum Beispiel sprach ich gerade letzte Woche mit einer argentinischen Journalistin, die mir erzählte, dass es in Argentinien keinen Klimawandel gibt. Niemand dort spricht davon.

DSM: In diesem Sinne könnte die Dürre keinen besseren Ort in Brasilien treffen als São Paulo, weil das die Menschen dazu bringen würde, darüber nachzudenken und darüber zu sprechen.

EvDC: Wenn die Menschen in Argentinien nicht darüber sprechen, dann vermute ich, dass die Frage auch in anderen Teilen der Welt nicht gestellt wird. In den USA wollen sie den Klimawandel so behandeln, dass alles beim Alten bleiben kann. Damit wir jedoch weniger Zerstörung anrichten, müssen wir eine radikale Umkehr unserer Lebensweise vornehmen, und das ist etwas, das keine Regierung akzeptieren kann. Ohne anhaltendes Wachstum gibt es keinen Kapitalismus.

MS: Aber anhaltendes Wachstum ist keineswegs identisch mit Gleichheit.

EvDC: Genau. Mehr noch: Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das existiert, um zu produzieren, und was ist das Ziel der Produktion? Mehr Produktion. Der Kapitalismus hört nie auf zu produzieren. Aber bis zu welchem Punkt und wie viel kann unsere Wirtschaft weiter wachsen? Niemand kennt die Antwort. Niemand stellt die Frage, weil die Vorstellung des Nullwachstums nicht in unserem ökonomischen Modell vorkommt. Die Idee ist die folgende: Wenn das Wachstum gleich Null ist, dann gibt es Rezession, und das wiederum führt zu Verelendung. Heutzutage muss man ständig in Bewegung sein, um an derselben Stelle zu bleiben. Das ist das Problem des Kapitalismus. Man muss weiter laufen, damit man an derselben Stelle bleiben kann. Darum ist es unmöglich, sich einen Ausweg aus dem Kapitalismus vorzustellen, der nicht buchstäblich mit einer Katastrophe einhergeht. Damit jeder sehen kann, was schon längst stattfindet, müsste es eine Dürre geben, die den gesamten Mittelwesten des nordamerikanischen Kontinents lähmt; einen Sommer in Russland, der die Ernte zerstört, und damit für Millionen Menschen den Hungertod bedeutet. Das muss jedoch in der westlichen Welt stattfinden, denn wenn Millionen Menschen in Afrika sterben, dann interessiert das niemanden. Es müssen Millionen in Europa oder Amerika sein, erst dann nehmen es die Leute zur Kenntnis.

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Über Hyper(quasi)objekte, Ketten der Vermittlung und andere Herleitungen

DSM: Wäre das nicht gerade eine gute Gelegenheit, erneut die Frage nach der Rolle der Kunst aufzuwerfen? Könnte man die Schwierigkeit im Denken über den Klimawandel – als ein Hyperobjekt,¹ um Timothy Morton zu zitieren – nicht auf irgendeine Weise näher durch Kunst bestimmen? Wir könnten an ein Quasi-Objekt denken oder ein Hyper-Quasi-Objekt, eine Realität, die sich vorstellen lässt, wenn auch verkürzt.

MS: Könnten wir einen Bruch denken, der die Dualität von BeobachterInnen und Beobachtetem in der Kunst überwinden könnte – das ist die Assoziation, die sich dabei für mich sofort einstellt –, so könnten wir eine Beziehung etablieren, die effektiv horizontal und emanzipatorisch wäre, da alles eine Frage von Standpunkten und ihrer möglichen Aufhebung ist.

EvDC: Ich muss auch an Günther Anders denken und seinen Begriff des Überschwelligen. Anders emigrierte aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA, doch fand er keine Universitätsanstellung, sondern arbeitete in einer Fabrik und als Journalist. In seinem Buch Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation aus dem Jahr 1972 – das von grundlegender Bedeutung für unser Is There a World to Come? gewesen ist – weist er darauf hin, dass mit der Erfindung der Atombombe die Menschheit eine metaphysische Mutation durchlaufen hat. Da sie nun in der Lage war, sich selbst zu vernichten, verwandelte sich die Menschheit von einer Spezies der Sterblichen in eine zugleich tödliche und sterbliche Spezies. Und diese Kapazität, diese Möglichkeit, wird nie wieder verschwinden. Einmal geschehen, kann sie nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Das tödliche Ereignis, das sich über Hiroshima zugetragen hat, markiert den Anfang der Zukunftslosigkeit. Von jenem Punkt bis in alle Ewigkeit, oder wenigstens solange die Welt nicht vergeht, leben wir in gestundeter Zeit, nicht im Zeitenende, sondern in der Endzeit. Anders legt nahe, dass es zwei unterschiedliche Arten von Phänomenen gibt, nämlich die psychologisch unterschwelligen, weil sie unterhalb der Schwelle der Wahrnehmung vor sich gehen, und die überschwelligen, die so groß sind, dass wir sie nicht gedanklich fassen, geschweige denn wahrnehmen können. Der Atomkrieg ist ein überschwelliges Phänomen. Wir sind in der Lage, eine Atombombe zu bauen, aber wir sind nicht fähig, uns das vorzustellen.

DD: Uns seine Auswirkungen vorzustellen.

EvDC: Uns die Bombe vorzustellen in dem Sinn, dass wir über einen Begriff davon verfügen. Anders behauptet, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem wir in der Lage sind, Dinge zu tun, die wir uns nicht vorstellen können. In der Utopie ist man ihm zufolge in der Lage, sich etwas vorzustellen, das man nicht tun kann. Jetzt befinden wir uns in der umgekehrten Situation, in der wir etwas tun können, das jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegt. Ein wenig ähnelt dies dem Hyperobjekt. Ein Objekt herzustellen, das alles zerstören kann, wie die Atombombe, geht über unsere Vorstellungskraft. Es ist undenkbar, unfassbar, und doch können wir es tun, oder nicht?

DD: Der Witz ist hier das Missverhältnis von Ursache und Wirkung. Unsere Taten von heute haben Folgen, die wir gedanklich nicht fassen können. Anders sagt, dass wir demzufolge immer weniger böse Absichten benötigen, um immer größeres Unheil anzurichten.

EvDC: Folglich ist der Typ, der in den USA auf den Knopf drückt und Millionen von Menschen im Iran tötet, nicht absolut böse. Er tut gar nicht viel. Er steht in keinem Verhältnis zu der Tat, die er ausführt. In der Vergangenheit musste man jemandem gegenübertreten oder hinterherlaufen, um ihn zu töten, ihm die Kehle durchzuschneiden und so weiter. Das ist der Unterschied zwischen uns und den indigenen Völkern. Damit man ein Tier essen kann, muss der indigene Mensch das Tier töten, ausweiden und häuten. Dementsprechend wissen diese Menschen sehr genau um die kosmologischen und psychologischen Kosten des Todes eines Tiers, denn sie müssen es töten, um an Essen zu kommen. Dahingegen gehen wir in den Supermarkt, greifen nach etwas Tiefgefrorenem, von dem wir nicht einmal sicher wissen, dass es ein Tier ist, und letzten Endes macht das gar keinen Unterschied mehr.

MS: Als Du von den indigenen Völkern anfingst, dachte ich an die Beziehung, die diese zum Hyperobjekt haben, das kosmologische Verhältnis aller Dinge untereinander, die sie wahrnehmen. Eines der grundlegenden Prinzipien des Buddhismus lautet, dass alle Dinge wechselseitig voneinander abhängig sind: Dieses Blatt Papier in meiner Hand steht in einer Beziehung zu jener Wolke, die Wolke zum Regen, der Regen zu den Bäumen, der Baum zum Papier, für das er sorgt, das Papier zu dem Buch, das wir lesen. Es gibt einen Bruch, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, zu verknüpfen, was dicht bei seinen Quellen zur Hand ist.

EvDC: Weil die Kette der Vermittlung zu lang geworden ist, wie Bruno Latour sagen würde. In der vormodernen Welt waren die Ketten der Vermittlung kurz. Als ich zum ersten Mal ein indigenes Dorf besuchte, war das Erste, das sie mich fragten: „Das Hemd, das Du trägst, hast Du es selbst gemacht?“ Und ich antwortete: „Nein“. „Hast Du Deine Hose selbst gemacht?“ „Nein“. Die Fragen bargen keinerlei Kritik, sie stellten sie aus reiner Neugier. „Hast Du die Kamera gemacht?“ „Nein“. „Wer hat sie dann gemacht?“ Und ich antwortete: „Die Japaner.“ „Du hast also nichts von dem, was Du bei Dir hast, selbst gemacht?“ Ich entgegnete: „Nein“. Da wurde mir augenblicklich klar, dass dem so war, nichts von dem, was ich bei mir trug, hatte ich selbst gemacht. Demgegenüber war alles, das sie besaßen, selbst gemacht, entweder von ihnen selbst oder von jemandem, den sie kannten – sie wussten, wo es herkam. Sie hatten nicht unbedingt alles höchstpersönlich selbst gemacht, aber wenn ich fragte: „Wie steht es mit Deinem Bogen, hast Du ihn selbst gemacht?“, dann antworteten sie etwa: „Nein, den hat mein Schwager gemacht. Er steht dort drüben.“ Unsere Beziehung zu den Dingen ist zu sehr vermittelt, zu distanziert. Uns ist nichts mehr vertraut.

MS: Das ist eine große Krise, die alle möglichen Felder verseucht hat. Im Jahr 2013 unterrichtete ich ArchitekturstudentInnen im ersten Jahr und dachte darüber nach, welche Auswirkungen die Moderne allein in den zehn Jahren gehabt hatte, seit ich mein Architekturstudium abgeschlossen hatte. Es war die Konsolidierung eines Modells, das Technik zum Fetisch macht. Architektur ist heute ausschließlich mit Form beschäftigt. Sie ist nicht mehr eine Form von Kenntnis, die sich unter anderem auf Form anwenden lässt. Die Moderne bedingt die Unterdrückung des Denkens hinsichtlich der ursprünglichen Funktion der ArchitektInnen als Personen, die über Raum reflektieren. Das Ergebnis ist der Automatismus von TechnikerInnen, die Projekte ausführen. Der Denkprozess über die Bedeutung eines Elements wie etwa einer Tür ist vollkommen verloren gegangen. Über die Bedeutung einer Tür nachzudenken ist heute weniger wichtig als das Wissen um den Rahmen, das Material, das Schloss und so weiter – das wird einem vom technischen Modell auferlegt. Die Bedeutung einer Tür abzuwägen, ihrer Funktion und dementsprechend ihres Orts, ist etwas, das sich stets schwieriger wiederherstellen lässt. Gleiches gilt für andere Bereiche. Philosophisches Denken ist durch den Automatismus der Produktion ersetzt worden.

DSM: Das ist wie Jared Diamonds Guns, Germs, and Steel: The Fates of Human Societies.

EvDC: AnthropologInnen hassen das Buch. Ich habe es noch nicht gelesen und auch nicht eines von denen, die er danach geschrieben hat. Doch für AnthropologInnen ist Diamond ein Dilettant, der über Sachen doziert, von denen er keine Ahnung hat.

DD: Zu dem Thema wird sehr viel geschrieben, die Literatur wächst zusehends. Ich habe nach ein paar Büchern gesucht, während Du hier gesprochen hast, aber wir können hier nichts mehr finden, die Bibliothek ist ein einziges Chaos.

EvDC: Es sind einfach zu viele Bücher.

DD: Ich suche etwas, dann gebe ich auf.

EvDC: Wir finden nichts mehr. Wir leben die Bibliothek von Babel. Das macht mich manchmal sehr faul. Es gibt so viel zu lesen, warum sollte man überhaupt etwas schreiben? So vieles haben wir noch nicht gelesen.

DSM: Neulich habe ich einen Kurzfilm im Fernsehen gesehen, der von einem Mann handelte, der ein Lied für einen Werbespot komponieren soll, doch er leidet unter einer Kreativblockade. Er versucht alles Mögliche, aber es kommt nichts dabei heraus. Am Tag, bevor der das Lied präsentieren soll, hat er eine Erleuchtung und denkt: „Wow, dieses Lied ist fantastisch!“ Also arbeitet er die ganze Nacht daran, brennt es auf eine CD und geht zur Präsentation. Er legt die CD ein und spielt sie ab, und es ist Satisfaction von den Rolling Stones. Er strahlt übers ganzes Gesicht, aber alle anderen starren ihn an, als wollten sie sagen „Was zum Teufel…?“

DD: Das ist wie in der Erzählung von Jorge Luis Borges, nicht?

EvDC: Pierre Menard, Autor des Quijote.

DD: Pierre Menard ist ein Dichter, der Don Quixote schreibt, einen vollkommen anderen Don Quixote, außer dass es exakt derselbe ist.

EvDC: Er will Cervantes’ Don Quixote neu schreiben, ohne ihn zu kopieren. Zu diesem Zweck muss er das Leben des Cervantes neu leben. Das Interessanteste ist, dass Satisfaction tatsächlich genau so geschrieben worden ist! Keith Richards schrieb es im Schlaf. Mitten in der Nacht wachte er auf, spielte die ersten vier Akkorde, griff ein Tonband, nahm es auf und legte sich wieder schlafen. Dann vergaß er es. Am nächsten Tag wachte er auf und erinnerte sich an nichts. Er stellt das Tonband an, und da ist dieser Song, und er denkt: „Hm, das ist ein interessanter Song.“

MS: Was für eine tolle Geschichte.

DD: Falls es eine Katastrophe gibt, dann sollte sie wenigstens von dieser Art sein.

EvDC: Wie Majakowski sagen würde, es ist besser, an Wodka zu sterben als an Langeweile.

¹ Morton zufolge ist ein Hyperobjekt ein Gegenstand, der derart massiv über Zeit und Raum verteilt ist, dass er sich raumzeitlicher Spezifizierung entzieht. Beispiele sind etwa die globale Erwärmung, Styropor und radioaktives Plutonium. Vgl. Morton, Timothy, The Ecological Thought (Cambridge/MA: Harvard University Press, 2010).

EDUARDO BATALHA VIVEIROS DE CASTRO ist ein brasilianischer Anthropologe und Dozent am Graduiertenkolleg für Anthropologie am Nationalmuseum der staatlichen Universität von Rio de Janeiro. Er ist der Autor mehrerer äußerst einflussreicher Bücher und Artikel, so unter anderem From the Enemy’s Point of View: Humanity and Divinity in an Amazonian society, Amazônia: etnologia e história indígena [The Amazon: Ethnology and Indigenous History, hrsg. zusammen mit Manuela Carneiro da Cunha], Cannibal Metaphysics und Há mundo por vir? Ensaio sobre os medos e os fins (mit Déborah Danowski). Viveiros de Castro hat unter anderem an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, der University of Chicago und der Cambridge University gelehrt.

DANIEL STEEGMANN MANGRANÉ lebt und arbeitet seit 2004 in Rio de Janeiro. Ausgewählte Einzelausstellungen: Daniel Steegmann Mangrané/Philippe Van Snick (2015, Museu de Arte Moderna do Rio de Janeiro; Spiral Forest (2015, Esther Schipper, Berlin); Animal que no existe, (2014, CRAC Alsace, Altkirch); / (- \ , (2013, Nuno Centeno, Porto); Bicho de nariz delicado (2013, Uma Certa Falta de Coerência, Porto); Phasmides (2013, Mendes Wood DM, São Paulo). Seine Arbeiten waren in zahlreichen Gruppenausstellungen vertreten, unter anderem in: 2015 Triennial: Surround Audience (2015, The New Museum, New York); Tunnel Vision (2015, Momentum, Nordic Biennale); Canibalia (2015, Kadist Art Foundation, Paris); Ir para volver, (2014, 12. Biennial de Cuenca, Ecuador); Suicide Narcissus (2013, Renaissance Society, Chicago); Formas únicas da continuidade no espaço (2013, 33. Panorama of Brazilian Art, Museu de Arte Moderna de São Paulo); Weather permitting…, (2013, 9. Mercosul Biennial, Porto Alegre); Tropicália negra (2013, Museo Experimental el Eco, Mexiko-Stadt); Sin motivo aparente (2013, Centro de Arte Dos de Mayo, Madrid); The Imminence of Poetics (2012, 30. São Paulo Biennial).

DÉBORAH DANOWSKI ist Dozentin an der Philosophischen Fakultät der Bischöflich Katholischen Universität von Rio de Janeiro (PUC-Rio) und hat einen Forschungsauftrag des National Council of Scientific and Technological Development (CNPq). Sie hat in Philosophie promoviert (PUC-Rio, 1991) und hat postdoktorale Studien an der Université de Paris IV (Paris-Sorbonne) bei Michel Fichant betrieben (2001). Danowskis Forschung widmet sich hauptsächlich der frühmodernen Metaphysik und in letzter Zeit auch der politischen und philosophischen Ökologie. Zu ihren bisher wichtigsten Arbeiten gehören „Ordem e desordem na Teodicéia de Leibniz“ (2011), „Dic cur hic? Ou o que significa estar aqui“ (2012), „O hiperrealismo das mudanças climáticas e as várias faces do negacionismo“ (2012), „Predicados como acontecimentos em Leibniz“ (2013) und Há mundo por vir? Ensaio sobre os medos e os fins (mit Eduardo Viveiros de Castro).

MICHELLE SOMMER ist Doktorandin der Kunstgeschichte, Theorie und Kritik an der PPGAV/UFRGS und arbeitet als Lehrerin, Forschungsassistentin und Kuratorin in der bildenden Kunst. 2015 verbrachte sie einen Studienaufenthalt an der Central Saint Martins/University of the Arts London im dortigen Exhibition Studies Programm. Sie hat Architektur studiert und einen Master in Stadt- und Regionalplanung an der PROPUR/UFRGS erlangt. Sie ist Autorin von Territorialidade negra: a herança africana em Porto Alegre, uma abordagem sócio-espacial (2011) und Herausgeberin von Práticas contemporâneas do mover-se (2015). Jüngst war sie Kokuratorin der 11. Auflage von Abre-Alas (2015, A Gentil Carioca, Rio de Janeiro). Sie hat das Residenzprogramm Estado de deriva em residência móvel, (Chapada dos Veadeiros, 2014/15) und Mimetismo (Casa de Rui Barbosa, Rio de Janeiro, 2014) kuratiert und parallel das internationale Colloquium The Thousand Names of Gaia mitorganisiert. Im Jahr 2013 war sie Co-Koordinatorin für Museografie für die 9. Mercosul Biennial in Porto Alegre. Zur Zeit ist sie Mitglied des Lehrkörpers der Parque Lage Visual Arts School, Rio de Janeiro, und bereitet zusammen mit Gabriel Pérez-Barreiro eine Ausstellung über den brasilianischen Kritiker der Moderne Mario Pedrosa (1900–1981) vor, die 2017 im Museum Reina Sofía in Madrid eröffnet wird.

Übersetzt von Volker Ellerbeck nach der englischen Übersetzung von Rodrigo Nunes