Der Zeitkomplex

ARMEN AVANESSIAN UND SUHAIL MALIK
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Herausgegeben von Armen Avanessian und Suhail Malik

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Armen Avanessian: Die grundlegende These des Post-Zeitgenössischen [post-contemporary] lautet, dass die Zeit sich verändert. Wir leben nicht nur in einer neuen oder beschleunigten Zeit, sondern die Zeit selbst – die Richtung der Zeit – hat sich geändert. Wir haben keine lineare Zeit mehr im Sinne einer Vergangenheit, auf die die Gegenwart und die Zukunft folgen. Es ist eher umgekehrt: Die Zukunft ereignet sich vor der Gegenwart, die Zeit kommt aus der Zukunft. Wenn die Leute den Eindruck haben, dass die Zeit aus den Fugen geraten ist, dass sie keinen Sinn mehr ergibt oder nicht so ist, wie sie einmal war, dann liegt das meiner Meinung nach daran, dass sie – oder wir alle – Probleme haben, sich daran zu gewöhnen, in einer spekulativen Zeit oder in einer spekulativen Zeitlichkeit zu leben.

Suhail Malik: Ja, und der Hauptgrund für die spekulative Reorganisation der Zeit liegt in der Komplexität und der Dimension der heutigen Gesellschaftsorganisation. Wenn die Hauptvoraussetzungen komplexer Gesellschaften eher Systeme, Infrastrukturen und Netzwerke als individuelle menschliche Akteure sind, verliert die menschliche Erfahrung ebenso wie die auf ihr beruhende Semantik und Politik ihrer Vorrangstellung. Dementsprechend verliert auch die Gegenwart als primäre Kategorie der menschlichen Erfahrung (zumindest so wie sie biologisch empfunden wird) – als Grundlage sowohl für das Verständnis der Zeit, als auch dessen, was Zeit ist (oder zumindest, was sie vorgeblich sein soll) – ihre Vorrangstellung zugunsten dessen, was wir als Zeitkomplex bezeichnen könnten.1 Eine theoretische Auswirkung der Erosion des Primats der Gegenwart können wir zwar sofort benennen, müssen aber später noch einmal darauf zurückkommen, nämlich, dass es nicht mehr notwendig ist, die Bewegung der Vergangenheit und der Zukunft auf Grundlage der Gegenwart zu erklären. Wir befinden uns im Gegenteil in einer Situation, in der die menschliche Erfahrung nur noch einen Teil komplexerer Formationen bildet (oder ihnen sogar untergeordnet ist), die geschichtlich und im Hinblick auf das konstruiert werden, was in der Zukunft erreicht werden kann. Vergangenheit und Zukunft sind gleichermaßen wichtig für die Organisation des Systems, und dies überschattet in gewisser Weise die Gegenwart als primäre Konfiguration der Zeit.

Komplexe Gesellschaften – das heißt, über-das-Menschliche-hinausgehende Gesellschaften im Maßstab einer sozio-technischen Organisation, die eine phänomenologische Bestimmung übersteigt – sind Gesellschaften, in denen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in eine Ökonomie eintreten, in der möglicherweise keiner dieser Modi mehr ein Primat besitzt bzw. in der die Zukunft die Gegenwart als primären strukturierenden Aspekt der Zeit ersetzt. Das ist natürlich nicht ganz neu. Die politische Ökonomie und gesellschaftliche Prozesse haben sich schon seit langem praktisch mit der Unterordnung des Menschen unter die gesellschaftliche und technische Organisation komplexer Gesellschaften beschäftigt. Und in gleicher Weise hat auch die Philosophie unter dem Namen Spekulativer Realismus in letzter Zeit versucht, den Begriff der Spekulation neu zu fassen. Spekulation hat nunmehr die Aufgabe, über-das-Menschliche-hinausgehende Formen der Erkenntnis zu finden, indem sie innerhalb des begrifflichen Denkens die Bedingungen für die Erkenntnis dessen schafft, was jenseits der menschlichen Erfahrung liegt. Dieses Unterfangen hat sicherlich mit den Bedingungen des Zeitkomplexes zu tun, aber es grenzt sich auch klar davon ab.

AA: Dazu vielleicht einige konkrete Beispiele für den spekulativen Zeitkomplex, die wir aus alltäglicher Erfahrung oder aus den täglichen Nachrichten kennen. Es handelt sich um Phänomene, die gemeinhin mit der Vorsilbe »prä-« beginnen, wie etwa Präemptivschlag, präemptive Politik, präemptive Persönlichkeit –

SM: Kannst du diese Phänomene genauer beschreiben?

AA: Bei der präemptiven Persönlichkeit oder Personalisierung geht es darum, wenn du ein bestimmtes Programmpaket oder eine Information über etwas, das dich interessieren könnte, von einem kommerziellen Dienstleister bekommst, den du nicht explizit darum gebeten hast.2 Ein Beispiel kennen wir von Amazon: Die algorithmischen Verfahren geben uns Buchempfehlungen auf Basis unserer früheren Bestellungen, doch die präemptive Persönlichkeit ist noch einen Schritt weiter: Du kriegst ein Produkt, das du wirklich haben willst. Die Algorithmen des Com-puters kennen unter Umständen deine Wünsche schon, bevor du dir selbst über diese klar wirst. Es ergibt keinen Sinn, im Voraus zu sagen »Ich werde das zurückschicken«, weil es sich wahr-scheinlich um etwas handelt, das du brauchst. Ich glaube nicht, dass diese ganze Entwicklung unbedingt schlecht ist, aber wir müssen lernen, damit umzugehen.

Eine andere oft kritisierte Sache ist die Politik der Präemptivschläge, die auch ein neues Phänomen des 21. Jahrhunderts ist. Brian Massumi und andere haben über die Art von rekursiver Wahrheit geschrieben, die sie produzieren. Man wirft irgendwo Bomben ab und danach findet man den Feind, den man erwartet hat.3 Man produziert eine Situation, die ursprünglich eine Spekulation war. Die Logik ist hier rekursiv, und der Präemptivschlag wird nicht ausgeführt, um etwas zu vermeiden; er stellt keine Abschreckung dar, bevor der Feind zuschlägt. Er unterscheidet sich deutlich von der Logik des Gleichgewichts des Schreckens oder den Präventivschlägen des 20. Jahrhunderts. Was gegenwärtig geschieht, beruht eher auf einer Vorwegnahme der Zukunft.

Ein weiteres alltägliches Beispiel für diese neue spekulative Zeitlichkeit, das zurzeit viel diskutiert wird, ist die präemptive Polizeiarbeit. Man findet sie in der Science-Fiction-Literatur und insbesondere im »PreCrime« und der »precog detection« von Philip K. Dicks Minority Report (Minderheiten-Bericht) und dem darauf basierenden Film von Spielberg. Varianten davon werden heute in zunehmendem Maße von der Polizei übernommen. Dies muss allerdings von anderen, heute gängigen Überwachungsstrategien unterschieden werden; Videoüberwachungsanlagen stehen zum Beispiel eher für eine ältere Idee der Kontrolle dessen, was Leute tun, oder zur Dokumentation dessen, was sie getan haben, um die Ausschließungsmechanismen zu verstärken. Die heutige Frage scheint, wenn man sie chronologisch formuliert, eher zu lauten: Welche Art von Polizei wird gebraucht, um Leute schon danach zu erfassen, was sie tun werden, bevor sie überhaupt etwas getan haben? – Als würde die Zukunftsposition mehr Macht versprechen, was dann wiederum eine Zukunftsparanoia erzeugt. Dies ist weniger eine Überwachung, die auf die Aus-schließung von Leuten gerichtet ist, als eine Überwachung, die sich mit den Leuten im gesellschaftlichen Raum beschäftigt, also mit dem Wert, den sie produzieren. Wie können sie beobachtet werden und wie kann man ihre Aktivitäten verwerten? Es gibt natürlich einen höchst wichtigen biopolitischen Faktor bei dieser Steuerung der Bevölkerung, und zwar insbesondere im Hinblick auf medizinische und versicherungstechnische Fragen.

SM: Was zusammen mit dem »prä-« vom Zeitkomplex vorangetrieben wird, ist auch eine Bedingung des »post-«, also die gegenwärtige Allgegenwärtigkeit dessen, was charakterisiert, wo wir heute stehen, und was möglicherweise zum Streit um das Post-Zeitgenössische, Post-Kontemporäre hinzukommt. Alles scheint heute »post«-irgendetwas zu sein, was darauf hinweist, dass unser Verständnis dessen, was heute geschieht, zwar etwas damit zu tun hat, aber auch von geschichtlich gegebenen Bedingungen getrennt wird… Während das »prä-« auf eine Art von antizipatorischer Deduktion der Zukunft, die in der Gegenwart wirksam ist, verweist (sodass die Zukunft bereits im Jetzt agiert, was wiederum darauf hinweist, dass die Gegenwart nicht die primäre Kategorie ist, sondern so verstanden wird, dass sie von der Zukunft organisiert wird), deutet das »post-« darauf hin, dass das, was heute geschieht, in einer Beziehung zu dem steht, was geschehen ist, aber nicht mehr existiert. Wir sind die Zukunft von etwas anderem. Das »post-« ist genauso ein Kennzeichen für das Schwinden der Priorität der Gegenwart.

Wenn wir post-zeitgenössisch, post-modern, post-Internet oder post-irgendwas sind – wenn wir also heute post-von-allem sind –, dann deshalb, weil die historisch gegebenen Semantiken nicht mehr funktionieren. So stellt die Gegenwart selbst eine spekulative Beziehung zu einer Vergangenheit dar, die wir bereits hinter uns gelassen haben. Wenn das Spekulative ein Name für das Verhältnis zur Zukunft ist, dann ist das »post-« eine Weise, in der wir die Gegenwart selbst als spekulativ im Verhältnis zur Vergan-genheit erkennen. Wir befinden uns in einer Zukunft, die die Bedin-gungen und Begrifflichkeiten der Vergangenheit überwunden hat.

Zusammengenommen ist die Gegenwart also nicht nur die Realisierung der spekulativen Zukunft (das »prä-«), sondern auch eine Zukunft der Vergangenheit, die wir schon hinter uns gelassen haben. Wie viele Beiträge in diesem Band nahelegen, besitzen wir deshalb nicht mehr die Stützen, die Stabilität oder die Konventionen, die die Vergangenheit uns bietet (das »post-«).

Wir haben keine lineare Zeit mehr im Sinne einer Vergangenheit, auf die die Gegenwart und die Zukunft folgen. Es ist eher umgekehrt: Die Zukunft ereignet sich vor der Gegenwart, die Zeit kommt aus der Zukunft.

AA: Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die Veränderung der Gegenwart, die Gestaltung der Gegenwart nicht unbedingt von der Vergangenheit bestimmt wird. Die Gegenwart kann nicht mehr primär aus der Vergangenheit abgeleitet werden, und sie ist auch kein Akt eines reinen Dezisionismus, sondern sie wird von der Zukunft gestaltet. Für mich ist das das Schlüsselproblem und die Schlüsselindikation, dass die Logik des Zeitgenössischen mit ihrer Fixierung auf die Gegenwart (was du die menschliche Fixierung auf die Erfahrung genannt hast), dass dieser Präsentismus Schwierigkeiten hat oder sogar völlig dabei scheitert, mit der Logik klarzukommen, dass er durch die Zukunft konstituiert wird.

Ich denke, das ist mit ein Grund für all die Kritik und Infragestellung des »Zeitgenössischen« in den letzten Jahren, parallel zur sogenannten spekulativen Wende. Leider wird Spekulation meist nur als eine allgemeine Frage der Logik oder Philosophie diskutiert, aber nicht unter ihrem spezifischen zeitlichen Aspekt. Wir halten offensichtlich immer noch Ausschau nach den richtigen philosophischen oder spekulativen Begriffen für diesen post-zeitgenössischen (post– oder past-contemporary) Zustand oder Zeitkomplex.

SM: Ja, so sehr wir beide in unterschiedlicher Weise dem speku-lativen Realismus verpflichtet sind, und obwohl wir uns gemein-sam von den poststrukturalistischen bzw. den aus dem späten 20. Jahrhundert stammenden Modellen der Philosophie, von der wir beide herkommen, entfernt haben, muss man sagen, dass der spekulative Realismus weitgehend auf eine inner-philosophi-sche oder begriffliche Vorstellung von Spekulation fokussiert hat, die darin besteht, von außerhalb des Denkens und der Erfahrung des Denkens zu denken. Das Interessante am Post-Zeitgenössischen ist nun, die Gegenwart von außerhalb ihrer selbst zu verstehen und zu operationalisieren. Und es ist nicht ausgemacht, ob das auch außerhalb des Denkens ist. Doch der Zeitkomplex kann auf jeden Fall gedacht werden, wobei »Spekulation« in erster Linie als zeit-geschichtliche Spekulation verstanden wird, so wie die Zukünftigkeit, und weniger als Exteriorität der Erfahrung oder Exteriorität des Denkens. Dies bringt uns näher an die heutigen ökonomischen oder technischen Operationen heran, als die begrifflichen Bedarfe des spekulativen Realismus.

Den spekulativen Zeitkomplex operationalisieren

SM: Eine aufschlussreiche Manifestation des operationalisierten spekulativen Zeitkomplexes sind Derivate. Derivate sind heute natürlich zentral für die finanzielle Spekulation, und sie sind »spekulativ« in dem Sinne, dass sie den unbekannten künftigen Preis einer Kapitalanlage und die damit verbundenen Risiken nutzen, um Gewinne im Verhältnis zum gegenwärtigen Preis zu erzielen. Wie Elena Esposito anhand der Derivate aufzeigt, werden die Ungewissheiten der Zukunft dazu benutzt, um Preise in der Gegenwart zu bilden, und so die übliche Zeitstruktur von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft außer Kraft gesetzt. Der Derivatehandel ist ein klares Beispiel dafür, dass Profite nicht auf der Grundlage der Produktion oder durch gebundenes Kapital wie Geräte, Fertigungsanlagen oder Gebäude gemacht werden, welche alle einer Geschichte der Investition folgen, und auch nicht durch variables Kapital wie Arbeit oder Löhne. Diese gehören zu traditionellen industriellen Akkumulationsmodellen, in denen eine Fabrik gebaut, Arbeiter eingestellt und bezahlt werden, Rohstoffe zu einem bestimmten Preis verarbeitet werden, ein Produkt hergestellt wird und dann zu einem Preis, der höher als die Kosten ist, verkauft wird und somit einen Profit erwirtschaftet. All dies bedeutet, dass Profite durch die Produktion zustande kommen, die in der Vergangenheit stattgefunden hat und deren Produkte dann auf dem Markt eingetauscht werden. Der Tausch des Produkts stellt den Abschluss einer Produktionskette dar, die schon geschehen sein muss. Beim Derivatmodell wird dagegen ein Preis in der Zukunft, die erst noch stattfinden muss, antizipiert, und diese zukünftige Eventualität, die unbekannt ist, wird opera-tionalisiert, um Profite zu erzielen – auf der Grundlage, das sei wiederholt, einer Zukunft, die unbekannt und noch keine Wirklichkeit ist.

Derivate sind, wie Natalia Zuluaga sagt, eine besondere Art von future-mining, eine Extraktion der Zukunft in der Gegenwart, doch diese Ausbeutung der Zukunft in der Gegenwart verändert die Gegenwart: Die Gegenwart ist nicht die Gegenwart, von der man ausgegangen ist. Die Konstruktion einer spekulativ konstruierten Gegenwart (das »prä-«) macht die Gegenwart aktiv zu einer Vergangenheit, die sie auch ist, das »post-«. Es gibt eine Version dieser Konfiguration, die du und andere anhand der präemptiven Politik, von Präemptivschlägen und der präemptiven Persönlichkeit beschrieben haben, die auch durch Big Data und die Verwendung von Algorithmen zur Auswertung von Nutzerdaten antizipiert wird. Aber diese Konfiguration unterscheidet sich auch von der Logik des Präemptiven, wo du, wenn du das Beispiel des Präemptivschlags anführst, einen möglichen Feind eliminierst, um dem vorzubeugen, was geschehen sein könnte – aber vielleicht auch nicht. Es ist eher so, dass dein Handeln (im Fall der Derivate die Preisbildung, aber die Konstruktion kann verallgemeinert werden) selbst modifiziert wird, weil du diese sehr nahe Zukunft als eine Bedingung des Handelns berücksichtigst, das dann ausgeführt werden sollte. Die Zukunft wirkt sich nun so auf die Gegenwart aus, dass sie sie verändert, noch bevor sie stattgefunden hat. Damit wird, wie Esposito sagt, nicht nur das lineare Schema der Zeit durcheinandergebracht, sondern die grundsätzliche Öffnung der Gegenwart auf die Zukunft hin.

Sind diese Bedingungen nicht das, womit Anke Hennig und du euch in dem Projekt einer Spekulativen Poetik beschäftigt habt, wenn auch eher in Bezug auf eine formale literarische und linguistische Analyse?4

AA: Anke und ich wollten bestimmte Grundannahmen problematisieren, wie etwa die schlichte und allzu vereinfachte Spannung zwischen Spekulativem Realismus und Poststrukturalismus. Und wir haben ja auch versucht, diesen Gegensatz in dem Sammelband Genealogies of Speculation zu überdenken, und zwar überall wo in der Philosophie der letzten Jahrzehnte die Dimension der Spekulation verfolgt wird.5 Was Anke und mich aber vor allem interessiert hat, ist die Idee einer spekulativen Zeitlichkeit auch in früheren Varianten spekulativen Denkens.

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SM: Einer der relevanten Aspekte in eurem Buch zum Tempus Präsens in diesem Zusammenhang ist, die grammatikalischen Strukturen der Sprache als eine Art Zeitkomplex einzuführen.6 Die Sprache scheint für dich ein kognitives, plastisches und manipulierbares Medium des Zeitkomplexes zu sein.

AA: Die Sprache hat in dieser Hinsicht eine einmalige Schlüsseleigenschaft: sie hat ein Tempussystem. Das grammatikalische Zeitsystem ist absolut entscheidend für unser Zeitverständnis und die Konstruktion von Zeit, und es ist noch grundlegender als die Erfahrung der Zeit, weil es diese Erfahrung strukturiert (letzteres darf aber nicht in einem relativistischen Sinne missverstanden werden). Die meisten kontinentalen Philosophien der Spra-che oder Zeit beschäftigen sich eigentlich nicht mit dem, was spezifisch für dieses System ist, weil sie sich nicht wirklich auf die Grammatik beziehen. Das ist ebenso ein Problem in der Phänomenologie wie bei diversen dekonstruktivistischen und post-strukturalistischen Philosophen. Aufschlussreicher als diese Traditionen sind in diesem Zusammenhang die analytische Philosophie und Linguisten außerhalb der Saussure’schen Traditionslinie. John McTaggart und Gustave Guillaume zum Beispiel denken viel über Sätze wie »Jede Vergangenheit war eine Zukunft« und »Jede Zukunft wird eine Vergangenheit sein« nach. Diese grundlegenden strukturellen Paradoxe – oder scheinbar strukturellen Paradoxe – können durch eine Analyse der Grammatik aufgelöst werden. Es gibt hier einige wichtige technische Fragen, auf die ich hier lieber nicht eingehe –

SM: Gut, vielleicht später. Der Hauptaspekt scheint darin zu liegen, dass Formulierungen wie »Jede Vergangenheit war eine Zukunft« und »Jede Zukunft wird eine Vergangenheit sein« –

AA: Und so weiter: Jede Gegenwart auch –

SM: Das wollte ich gerade sagen: Was sehr relevant bei diesen beiden Formulierungen ist, und zwar insbesondere für die Identifizierung des spekulativen Zeitkomplexes, den wir hier post-zeitgenössisch nennen, ist, dass sie eine Zeitstrukturierung artikulieren, aus der die Gegenwart herausfällt. Es können also Zeitbestimmungen vorgenommen werden, die die Gegenwart nicht mehr als Grundlage benötigen. Die Zeitstruktur der Sprache ermöglicht also die Formulierung der Nicht-Notwendigkeit der Gegenwart als strukturierende Bedingung der grammatikalischen Zeitstruktur.

AA: Mir war dabei wichtig, dass der spekulative Realismus bzw. jede Form spekulativer Philosophie ein besseres Verständnis einer, wie ich es nennen würde, spekulativen und materialisti-schen Zeitlichkeit braucht. Für Anke und mich bedeutete das, die Zeit [time] auf Grundlage der grammatikalischen Strukturen der Sprache (als etwas Materielles) zu verstehen und nicht eine Zeit-philosophie, sondern eine grammatikalische Tempusphilosophie zu entwickeln.

SM: Gleichzeitig hast du kritisiert, dass der spekulative Realismus, so wie er ist, die gewöhnliche oder die literarische Sprache nicht ernst genug nimmt, da er sie dem Korrelationismus zuweist – sprich, der Dimension der menschlichen Erfahrung, die sich selbst nie verlässt.

AA: Ja, aber das ist ein Selbstmissverständnis.

SM: Und warum hast du das Spekulative Poetik genannt?

AA: Weil unsere Arbeit auch eine Polemik gegen die Ästhetik und den Fokus auf aisthesis (Perzeption) ist, etwa der Erfahrung oder ästhetischen Erfahrung von Zeit; und, um zu deiner vorherigen Frage zurückzukehren, auch gegen das Primat der Erfahrung.

SM: Meinst du mit »konstruktiv«, dass das Tempus operationalisiert werden kann, um die Zeit anders zu strukturieren? Die Sätze, in denen es heißt, dass die Vergangenheit die Zukunft war, und die die Gegenwart ausklammern, sind nicht nur deskriptiv. Sie konstruieren auch Zeitbeziehungen innerhalb der Sprache, insbesondere durch Narrative. Geschieht dieselbe Operationalisierung des Tempus außerhalb der menschlichen Sprache, zum Beispiel durch die Derivat-Strukturen, die wir eben erwähnt haben?

AA: Der Punkt ist eher, dass die »Erfahrung« und die Konstruktion von so etwas wie chronologische Zeit nur Effekte der Grammatik sind und keine Repräsentation einer Gerichtetheit der Zeit oder von dem, was Zeit wirklich ist. Die Tempora der Sprache schaffen eine Ontologie der chronologischen Zeit für uns, und wir erleben diese Zeit zum Beispiel als die Illusion, eine Biographie zu haben.

SM: Ist es nicht diese Begrenzung der konsekutiven Ordnung, die der spekulative Zeitkomplex außer Kraft setzt? Der spekulative Zeitkomplex besagt, dass die Zukunft, also auch die Zukunft, die wir nicht kennen, mit in die Gegenwart einkalkuliert wird und dass die Gegenwart von der Vergangenheit abgelöst wird. Die Demontage der linearen Ordnung und des Primats der Gegenwart gleicht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einander an.

AA: So ist es. Literarische Fiktionen heute, oder genauer gesagt, Präsensromane sind diesbezüglich viel gefährlicher als traditionelle Narrative, da sie die Zeit tatsächlich aus den Fugen geraten lassen. In der Nachfolge der Avantgarden des 20. Jahrhunderts unterwerfen die Präsensromane die Leser einer fundamentalen Erfahrung von Asynchronie. A. N. Whitehead würde diese Art von Empfindung »feeling« nennen. Die Zeit fühlt sich in der Tat halluzinogen, gespenstisch, bedrückend, beklemmend und schreckenerregend an, wie David Roden in seinem Beitrag ausführt. Kurz gesagt, man spürt die aus der Zukunft kommende Macht der Zeit. Im äußersten Fall bringt dieses spekulative Gefühl einen dazu, das Leben zu ändern. Eins zu werden mit der Zukunft, auf die man spekuliert hat, löst eine Metanoia aus. Aber wir schweifen schon wieder ab… Das Zeitphänomen, für das wir uns interessieren, bedeutet jedenfalls auch, dass eine ästhetische Herangehensweise an dieser fundamentalen Asynchronie scheitert.

SM: Asynchronie?

AA: Dass die Gegenwart nicht voll erklärbar ist, sondern in sich selbst gespalten, und dass grammatikalische Zeitstrukturen diese Spaltung aktiv operationalisieren können. Sie ist aufgeladen mit zahllosen vergangenen Gegenwarten. Sie präsentiert wirklich Phänomene als Post-X-Phänomene und entsynchronisiert die Zeit.

Wenn wir post-zeitgenössisch, post-modern, post-Internet oder post-irgendwas sind – wenn wir also heute post-von-allem sind –, dann deshalb, weil die historisch gegebenen Semantiken nicht mehr funktionieren.

Linke und rechte Zeitgenossenschaft

SM: Das führt zu dem zurück, was wir zuvor gesagt haben, nämlich, dass die Zukunft zu einem Teil der Gegenwart wird. Dies könnte als eine Erweiterung der Gegenwart ohne eine Zukunft, die sich radikal von ihr unterscheidet, verstanden werden. Als Argument taucht es oft in der kritischen linken Behauptung eines Verlustes der Zukünftigkeit im Zeitalter des Kapitalismus kom-plexer Gesellschaften auf. Wie Nick Srnicek und Alex Williams gezeigt haben, liegt darin eine der wesentlichen Selbstbeschränkungen der zeitgenössischen Linken, die sie in ihrem Beitrag zu diesem Band aufzuheben versuchen, indem sie eine spezifische Bestimmung einer »besseren Zukunft« vornehmen, die eine wirkungsvolle Perspektive zur Anleitung der gegenwärtigen Politik aufzeigt.

AA: Aus früheren Diskussionen mit Dir weiß ich, dass wir diesbezüglich eine kleine Meinungsverschiedenheit haben, die das gegenwärtige Stadium des Neoliberalismus betrifft – Neoliberalismus verstanden als einen staatsbürokratischen Nexus, der auf eine Konzentration von Kapital und Macht gerichtet ist, die zunehmend autokratische Eliten braucht und konsolidiert. Ich tendiere eher dahin zu denken, dass wir bereits über dieses Stadium hinaus sind. Für mich und andere ist der Neoliberalismus eine Bewegung in Richtung von etwas, das man als einen Finanzfeudalismus bezeichnen könnte, in dem Leitsätze oder Grundlagen der politischen Ökonomie des Kapitalismus – wie ein sicherer Nationalstaat, eine regierbare Bevölkerung und ein sich selbst regulierender Markt oder andere grundlegende ökonomische Annahmen wie etwa hohe Profite, die zu einem größeren Wettbewerb führen, anstelle von Monopolen, Oligopolen, etc. – zu verschwinden beginnen und wir uns nun in einer grundlegenden Finanzkrise befinden, mit einer zunehmenden Verschärfung der Ungleichheit.

Doch anstatt darüber zu diskutieren, ob wir es mit einem neuen Finanzfeudalismus oder nur mit einem anderen Stadium des Kapitalismus zu tun haben, sollten wir uns hier lieber auf die Grundhypothese konzentrieren, die wir gemeinsam vorschlagen: Angesichts der gesellschaftlichen, technologischen und politischen Transformationen seit den 1960er und 1970er Jahren, die wir bereits erwähnt haben und die auch in die zeitgenössische Kunst und – mit dem Auftauchen und der Konsolidierung des Präsensromans – auch in die Literatur eingegangen sind, leben wir in einer neuen spekulativen Zeitstruktur. Es hat im Wesentli-chen zwei Antworten auf diese Transformation gegeben. Einerseits gibt es eine rechte oder reaktionäre Gegentendenz, die die Vergangenheit für eine Art von Gegengewicht gegen die negativen Aspekte hält, die heute jeder beobachtet und spürt: Die Frustrationen, die aus den systematischen Fehlern des neoliberalen finanziellen Neofeudalismus resultieren. Die andere Standardantwort auf die spekulative Zeitstruktur ist die linke oder kritische Reaktion, die auch in der zeitgenössischen Kunst vorherrschend ist. Der Fokus liegt hier nicht in der Vergangenheit als Ort semantischer Sicherheit, sondern vielmehr in der Gegenwart als Ort oder Bedingung eines vermeintlichen Widerstands gegen die Veränderung in Richtung einer spekulativen Zeit.

Doch bei allen Differenzen zwischen den kritischen linken und reaktionären rechten Antworten auf das Auftauchen der neoliberalen Mobilisierung des spekulativen Zeitkomplexes: Letztlich spielen beide auf unterschiedliche Weise weiterhin das Spiel dieser neuen Formierung des neoliberalen Kapitalismus oder Finanzfeudalismus. Das ist natürlich bei den rechten reaktionären Tendenzen offensichtlich, die in keiner Weise mit jenen Machtstrukturen brechen, die die neue gesellschaftliche, ökonomische und politischen Formierung ermöglichen, sondern diese eher stärken. Aber auch die kritische Linke findet zu keiner Alternative. Eher ist eine Art von Erstickungsgefühl zu konstatieren, und zwar in dem Maße, dass die meisten Leute das Gefühl haben, nicht in der Lage zu sein, in der Gegenwart Fuß fassen zu können, etwas verändern zu können und so etwas wie Zukunft zu haben, die diesen Namen verdient. Die zeitgenössische Kunst ist sowohl Symptom als auch Surrogat dieser Zukunftslosigkeit, mit ihrer ständigen Zelebrierung der Erfahrung: ästhetische Erfahrung, criticality, Gegenwärtigkeit, etc.

SM: Das ist eine aufschlussreiche Beschreibung der typischen linken und rechten Antworten und von typisch defensiven Reaktionen rund um das Auftauchen des spekulativen Zeitkomplexes mit dem Verlust von Orientierungen, die er im Verhältnis zur Vergangenheit und zur Zukunft instituiert. Obwohl es viele Wege gibt, eine Beziehung zum spekulativen Zeitkomplex zu verstehen oder herzustellen, vereinfacht die Rechte ihn, um ihn als einen Komplex zu reduzieren und ihn als dominierendes Moment auf der Grundlage der Tradition wieder neu auszurichten. Die Rechte hat sich immer an diese Unmodernität gehalten. Während Modernität ein Paradigma ist, in dem das Neue im Jetzt geschieht, so ist das, was die Rechte charakterisiert hat, eine Verteidigung gegen das Auftauchen des Neuen als Grundlage des Handelns, von sozialen Organisationen, der Ästhetik, von Sinn und so weiter. Die Autorität vergangener Bedingungen wird als Stabilisierungsmechanismus für die Modernisierung geltend gemacht. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Rechte ist nicht unbedingt gegen Modernisierung, aber sie stabilisiert ihre zerstörerischen Auswirkungen, indem sie sich auf das beruft, was einst notwendigerweise konservative oder reaktionäre geschichtliche Gefüge waren. Und mit dem operationalisierten spekulativen Zeitkomplex des neoliberalen Kapitalismus konfrontiert, kann die Rechte dennoch weiterleben, indem sie das tut, was sie immer getan hat, ohne es unbedingt neu zu organisieren.

Auf dieser Grundlage ergibt die Rechtslastigkeit des Neoliberalismus Sinn. Auch wenn ich nicht damit übereinstimme, dass der Ausdruck »Finanzfeudalismus« adäquat ist, um das zu beschreiben, was den Kapitalismus heute ausmacht, dient er dennoch dazu, die zunehmend elitäre Autokratie zu benennen, die mit der neoliberalen Restrukturierung einhergeht. Die politische Frage muss dann lauten, wie sich diese autokratische, post-demokratische Art von Macht legitimiert. Die Rechte ist gerade hier sehr nützlich, da das, was sie stützt, im Wesentlichen die Autorität einer anerkannten geschichtlichen oder Elite-Formation ist, die Semantiken – und vielleicht nur Semantiken – unter den neu etablierten Bedingungen stabilisiert.

AA: Und die übliche linke oder kritische Reaktion?

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SM: In einem gewissen Sinne macht das linke Denken das Problem »des Zeitgenössischen« deutlicher, weil die Linke in ihren progressiven Formen mit dem Modernismus zusammenging. Das Jetzt, in dem das Neue stattfindet, ist für die progressive Linke der Fetisch der Veränderung, wie sich an ihren revolutionären Idealen und Klischees zeigt. Die linke Abwehr des spekulativen Zeitkomplexes besteht darin, nur die Gegenwart als den Ort zu verstehen, an dem über eine Rekonstitution der gesellschaftlichen und zeitlichen Organisation und auch der semantischen Reorganisation nachgedacht wird. Statt die Zukunft als Bedingung der Gegenwart zu sehen, wird die Gegenwart dabei als unendlich ausgedehnt verstanden, was jede radikal andere Zukunft verunmöglicht (und das gilt insbesondere für eine revolutionäre Zukunft).

Die spekulative Gegenwart, so wie wir sie kennzeichnen, ist im Gegensatz zu dieser linken Melancholie eine Verschmelzung der Zukunft und der Vergangenheit, die sich quasi in die Gegenwart einfaltet, und zwar in einer Weise, die ihr die Vorrangstellung nimmt und sie vielleicht sogar herausfallen lässt – wie in den Sätzen, die die grammatikalischen Tempusstrukturen beschreiben, die wir vorhin erwähnt haben: Die Vergangenheit war die Zukunft, und die Zukunft wird die Vergangenheit sein.

AA: In dieser spekulativen Gegenwart gibt es keine kritische Unterbrechung der Gegenwart.

SM: Nein, sie wird konstruiert durch die Ungewissheiten der Zukunft und die Abwesenheit der Vergangenheit.

AA: Deshalb ist das in der akademischen Linken so beliebte Denken des Ereignisses oder der leeren Gegenwart – die Obsession einer ästhetischen Zeitgenossenschaft – immer noch hoffnungslos modernistisch oder klassischer Modernismus. Jedenfalls entspricht es, wie Laboria Cuboniks in ihrem Beitrag aus unter-schiedlichen Blickwinkeln ausleuchten, nicht den Herausforderungen und Bedingungen des 21. Jahrhunderts.

SM: Die Linke sieht im spekulativen Komplexerwerden der Zeit also eher eine Erweiterung der Gegenwart als ein Denken durch die Erzwingung der Zukunft oder die Demontage der Vergangenheit. Geschichtliche, zukünftige, antizipatorische Beziehungen werden mit einem emphatischen Beharren auf der Gegenwärtigkeit des Handelns, der Ästhetik oder der Erfahrung aufrechterhalten. Dies ist ein Beharren auf »dem Zeitgenössischen«. Es beruht nach wie vor auf dem Präsens als primärer grammatischer Zeit. Und was mit der Betonung des Zeitgenössischen geschieht, ist eine Bestimmung der Gegenwart als unendlich ausgedehnt. Das Zeitgenössische ist eine Zeitform, die sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft abdeckt, eine metastabiler Zustand.

Ein linkes Denken, das sich weiter Modernismus verschreibt, wird keinen Einfluss auf die spekulative Gegenwart ausüben, selbst wenn dieses linke Denken dem Zeitkomplex größere Aufmerksamkeit schenkt als die Rechte, weil es zumindest nicht versucht, die Vergangenheit wiederherzustellen (obwohl ihr revolutionärer Flügel weitgehend daran interessiert zu sein scheint, eine historische Semantik wiederherzustellen, während ihr sozialdemokratischer Flügel jetzt ein Interesse an gescheiterten Marktlösungen entdeckt). Selbst wenn man annimmt, dass die Linke offener für die Modernität als die Konservativen ist (was außerhalb des linken Selbstbestätigungsphantasmas fraglich erscheint), ist sie der Meinung, dass die Ausdehnung der Gegenwart in die Vergangenheit und in die Zukunft diese Zukunft als Zukunft zerstört. Die Linke sieht nicht, wie Esposito in ihrem Essay in diesem Band herausstellt, was mit dieser Zukunft heute wirklich heraufbeschworen wird – nämlich, dass heute morgen ist, wie du bei einer anderen Gelegenheit gesagt hast.

AA: Das war »Tomorrow Today«, ein Galerienfestival, das 2015 in Wien stattgefunden hat.

SM: Genau. Dieser Titel verweist darauf, dass die spekulative Gegenwart sich in einer Prä-Post-Formation oder in einer post-zeitgenössischen Formation befindet. Die Gegenwart ist heute nicht die Zeit, in der die Entscheidungen getroffen werden, oder die Grundlage für das Neue, wie sie es im Modernismus war. Das Neue ereignet sich stattdessen in einem Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft, was kein ungerichteter Fluss ist, sondern eine spekulative Konstruktion in die oder von den Richtungen der Vergangenheit und der Gegenwart zugleich.

AA: Die ganze Idee dessen, was wir im Deutschen Zeit-Genossenschaft nennen, ist problematisch, weil es allzu oft den Wunsch bezeichnet, die Gegenwart mit einem Beharren auf der Gegenwart zu ändern. Die con-temporareity der Zeitgenossenschaft verweist auf die Idee, Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen, indem man versucht, ihr so nahe wie möglich zu kommen. Aber diese Aufgabenstellung ist nicht mehr zeitgemäß. Es ist einfach eine antiquierte Art und Weise zu denken und zu handeln. Was stattdessen benötigt wird, ist weder Gegenwartsgenossenschaft noch Vergangenheitsgenossenschaft, sondern eher eine Zeitgenossenschaft aus der Zukunft, eine Art von Zukunftsgenossenschaft. Wir müssen Genossen der Zukunft werden und uns der Gegenwart von ihr aus, also aus der Richtung der Zukunft nähern.

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Eine allumfassende Ästhetik: Zeitgenössische Kunst versus Zukünftigkeit

SM: In der Gestalt des Zeitgenössischen hat die modernistische Linke eine Art von Melancholie für die Zukunft geschaffen, die sie zugleich abschafft, um ihr erhaltenes Versprechen einzuhalten: die Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft werden als Modifika-tionen der Gegenwart verstanden. Der Vorteil für die linke Kritik ist, dass sie das Zeitgenössische dann für alle Zeit auf seine eigene Weise anpassen, verändern und kolonisieren kann. Das ist besonders evident in der zeitgenössischen Kunst, die zu einer Art von letzter Welt in der Kunst wird. Sie beseitigt sogar ihre eigene Zukünftigkeit, wenn nicht gar die Zukunft im Allgemeinen zu Gunsten ihrer eigenen kritischen Vollendungen, die natürlich Eroberungsmechanismen sind, welche die Errungenschaften der zeitgenössischen Kunst demonstrieren sollen.

AA: Die zeitgenössische Kunst ist nicht nur deshalb ein gutes Beispiel, weil sie ein Opfer der jüngsten ökonomischen und politischen Neuordnung des Neoliberalismus war, sondern wirklich dazu beigetragen hat, die Matrix dieser Reorganisation zu schaffen, indem sie ihre Logik aus einem linken und kritischen Blickwinkel auf alle Ebenen übertragen hat. Insbesondere hat sie den Bereich der Gegenwart oder der Vergangenheit als Bedingung für das Handeln hervorgehoben und auch, wie schon gesagt, die individuelle Erfahrung als zentrale konzeptuelle Stütze bei dieser Reorganisation. Sie führt eine allgemeine Ästhetisierung auf allen Ebenen an: persönliche / individuelle Kreativität, Originalität, Flexibilität, Innovativität, etc.; Umwelt und Städte als Räume der Kreativität und des »zerstörerischen« Unternehmertums; die Verschmelzung von Produktion und Konsum zum Prosumenten, dessen »natürlicher« Wohnraum eben gerade die smart city selbst ist, die sie in eine Art von permanenter Biennale verwandelt hat. All dies geht zurück auf die Fetischisierung von Präsenz und der ästhetischen Erfahrung des Alltagslebens, die letztlich die Herstellung von so etwas wie Gegen-wart verunmöglicht. Letzteres liegt naturgemäß – auch wenn sich der zeitgenössische Kunstdiskurs kaum je darüber im Klaren ist – außerhalb des Bereichs des Ästhetischen und ist eher Aufgabe einer Poetik oder der Poiesis.

SM: Durch die ständige Bereicherung der Erfahrung über eine ästhetische Begegnung lenkt die zeitgenössische Kunst die Aufmerksamkeit auch auf Einzel- und Besonderheiten, und zwar auf Kosten eines systematischen Verstehens. Victoria Ivanova untersucht in ihrem Beitrag zu diesem Buch diese Form einer operativen Logik und bezieht sie auf das Regime der Menschen-rechte, das für sie eine Art Gegenpart jener globalen Ordnung darstellt, die das Verhältnis zwischen Universalität und dem Einzelnen nach dem sogenannten »Ende der Geschichte« regelt.

Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass dies keine Bedingung für einen Stillstand ist: Die zeitgenössische Kunst wird zu Gunsten der Hauptprofiteure des Neoliberalismus in den neoliberalen Erfahrungsmodus integriert, und das in einer Weise, die ständige Veränderungen und Verbesserungen fördert. Dies ist Teil der Komplexität der spekulativen Gegenwart einer neoliberalen kapitalistischen Entwicklung: Es sieht aus wie ein persönliches Gut, wie eine Bereicherung der Erfahrung durch Ästhetisierung, durch die Förderung von Veränderung, während eine bestimmte Stabilität aufrechterhalten wird –

AA: Eine ästhetische Erfahrung nicht nur der Kunst, sondern von allem und jedem.

SM: Ja, Ästhetisierung der Erfahrung oder Erfahrung als Ästhetik. Das ist auch eine Verallgemeinerung der Ethik: die Einschätzung von Unterschieden ohne politischen Bedarf, eine Art von superliberaler –

AA: Entpolitisierung…

SM: Eine Entpolitisierung, weil es sich um eine Entsystematisierung handelt. Eine solche ästhetisch / ethische Aufwertung ist eine indirekte Ablehnung systematischer Bestimmungsversuche. Letztere werden für zu komplex gehalten, um gelehrt oder überarbeitet werden zu können, unmöglich oder irreführend, weil totalitär. Dadurch werden wir gezwungen, nur die Singularitäten dessen, was ist, und von Erfahrungen zu thematisieren. Das ist sicherlich ein Dogma der zeitgenössischen Kunst, welches sich durch jedes Kunstwerk und seine gesellschaftlichen Normen zieht. Und zwar so weit, dass es ein zwar unbedeutenderes, doch paradigmatisches Modell für eine neoliberale Gesellschaft ist, wie Ivanova anmerkt.

Die Art und Weise, in der die zeitgenössische Kunst zu einem Spielzeug für die Großmächte des Neoliberalismus wird, obwohl ein großer Teil des kritischen Inhalts der Kunst sich gegen dieses Herrschaftsmodell richtet, diese Konvergenz wird vor diesem Hintergrund verständlich. Doch hier muss hervorgehoben werden, dass, statt einfach auf der Ebene einer Zusammenführung verschiedener Spielarten des Linksanarchismus in den kritischen Behauptungen der zeitgenössischen Kunst mit den rechten Interessen einer zunehmenden Konzentration von Kapital und Macht zu verharren, beide insofern ein gemeinsames Interesse verfolgen, als sie den spekulativen Zeitkomplex als reaktive Entzeitlichung der spekulativen Gegenwart nivellieren oder vereinfachen wollen.

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Es ist wichtig, Strategien und Praktiken (und das heißt Theorien) gegen diese und andere derartige Reaktionen zu entwickeln, um Einfluss auf die spekulative Gegenwart zu nehmen. Und dazu sind beide, sowohl die rechten konservativen Strategien als auch die kritischen oder ästhetischen Ansätze letzten Endes nicht in der Lage. Wie schon gesagt, beide vermischen sich in der zeitgenössischen Kunst, die daher genausowenig in der Lage ist, irgendetwas anderes zu tun, als diese Bedingung zu konsolidieren, ganz gleich, was sie zu tun behauptet, was sie zu tun vorgibt oder was ihre inhaltlichen Ansprüche sind.

»Wir sollten uns nicht fürchten, Sinn zu stiften«

AA: Wir stimmen darin überein, dass wir in einem post-zeitgenössischen spekulativen Zeitkomplex denken und handeln müssen. Doch nun lautet die Frage: Worin besteht der Unterschied zu der kapitalistischen oder finanzfeudalistischen Version des Zeitkomplexes? Wie führt eine spekulative Theorie eine Differenz in die spekulative Gegenwart ein, die sich von der explorativen Formie-rung durch den Neoliberalismus unterscheidet, oder wie immer sonst wir diese Herrschaftsform charakterisieren wollen? Was wäre eine spekulative Politik, die in der Lage ist, den Zeitkomplex zu akzelerieren, und zwar im Sinne der Einführung einer Differenz in ihn?

SM: Das ist sicher die grundlegende politische Frage. Ein weiterer theoretischer Punkt könnte uns helfen, die Schwierigkeiten dabei zu verstehen. Genauer gesagt: Warum wollen wir der vergangenen Zeitgenossenschaft nicht nur Jacques Derridas Kritik der Metaphysik der Präsenz angedeihen lassen? Für Derrida ist die Gegenwart die primäre Kategorie der westlichen Metaphysik, die nicht nur die wichtigsten philosophischen Lehren der westlichen Tradition umreißt, sondern auch korrelative vorherrschende gesellschaftliche, politische und sprachliche Formationen. Und Derrida meint, dass die Gegenwart, die für sich selber adäquat gehalten wird, demontiert und rekonstruiert werden muss. Für ihn besteht die Aufgabe darin, die Kategorie der »Präsenz« zu dekonstruieren – und zwar ontologisch, in der Zeit, im Raum, und so weiter. Wir gehen davon aus, dass diese Zeitgenossenschaft eine solche erweiterte gesellschaftsgeschichtliche Gegenwart, eine Vergegenwärtigung ist. Machen wir also nicht noch einmal das Gleiche wie Derrida, auch wenn er eine Schlüsselgestalt in der kritischen Abstammungslinie ist, die überwunden werden muss?

AA: Zunächst mal gibt es ja Schlimmeres, als Derrida zu wiederholen. Doch seine Dekonstruktion gilt einem notwendigerweise andauernden ideologischen Effekt von Präsenz, die sich selbst immer wieder einstellt und auch immer wieder zu dekonstruieren ist: Metaphysik muss dekonstruiert werden und sie dekonstruiert sich ständig selbst, sie ist also eine unendliche Prozedur. Leider deckt sich dies nur allzu gut mit einer öden modernistischen Ästhetik des Negativen, die nicht sehr weit weg ist von den Fetischen der Frankfurter Schule, des Nicht-Identischen oder einer »différance«, die mit dem Gegensatz von einerseits Sinn oder Inhalt – letzterer traditionell das böse Ding – und andererseits Subtraktion spielt, welche das gute Ding ist, wie etwa die Leere oder die Unlesbarkeit. Ich denke, das ist eine sehr modernisti-sche Logik aus dem 20. Jahrhundert, und auch eine trotz der radikalen Geste völlig konformistische Logik des Zeitgenössischen. Im Gegensatz zu all diesen Bestrebungen muss die Umgestaltung der spekulativen Gegenwart jedoch davon ausgehen, dass der Sinn immer irgendwo vorhanden ist, und dass die stetige Prozedur von Veränderung und Subtraktion, die von Derrida und der kritischen Tradition so glorifiziert wird, nicht unbedingt etwas Positives ist.

Mit der Dekonstruktion und den meisten anderen Philosophieströmungen des letzten Jahrhunderts, ganz gleich, welche anderen Verdienste sie haben mögen, landet man bei einer Ästhetik, die eine unendliche Zelebrierung der Gebärde der Unterbrechung, der Entleerung, etc. ist (denken wir an die Jünger Badious). Doch mit dem spekulativen Zeitkomplex befinden wir uns nicht mehr in dieser Logik der Unterbrechung. Ich habe kein Problem mit einer Ontologie der Zeit, solange sie uns die Möglichkeit eröffnet, Zeit nicht nur über Gegenwärtigkeit zu verstehen.

SM: Du hast Recht, wenn du sagst, dass Derrida bei einer Ästhetik landet. Doch es handelt sich auch um eine Ethik, mit dem Schwerpunkt auf einer immer singulären und unversöhnlichen Erfahrung der Verletzlichkeit. Er wettert gegen den etablierten Sinn.

AA: Wir sollten uns nicht fürchten, Sinn zu stiften oder herzustellen. Ganz im Gegenteil.

SM: Sicher. Ich weiß nicht, ob sich meine andere Beobachtung mit deiner Antwort deckt, aber die Konstruktion des spekulativen Zeitkomplexes ist die gesellschaftliche – also hauptsächlich technische und ökonomische – Operation der Dekonstruktion der Präsenz. Das heißt, die Art und Weise, in der die Semantik oder instrumentelle Operationen in Zeitkomplex-Gesellschaften her-vorgebracht werden, ist genau die Dekonstruktion der Präsenz und des Sinns in der Weise, die Derrida befürwortet hat. Wegen des spekulativen Zeitkomplexes befinden wir uns dann nicht mehr in einer Metaphysik der Präsenz. Derrida spricht darüber in seiner Diskussion über die Teletechnologien und die Verschiebungen des Raumes, der Lokalität und der Ontologie, welche dabei eine Rolle spielen.7 Doch die politische Schwierigkeit und die in diesen Diskussionen zumeist ausgeklammerte Frage ist, inwiefern die angestrebten Dekonstruktionen der Zeit, des Sinns und so weiter tatsächlich durch den Prozess der Kapitalisierung stattfinden. Der neoliberale Nexus von Staat und Wirtschaft hat diese Dekonstruktion ausgeführt, und zwar weit effektiver als Derrida. So gesehen, befördert »das Zeitgenössische« die Abschottung der Gegenwart gegen ihre Dekonstruktion durch den spekulativen Zeitkomplex. Zeitgenossenschaft umfasst dabei alle Prozeduren der Unterbrechung, der Subtraktion, der Verzögerung und der Nicht-Identität, die du erwähnt hast, darüber hinaus noch viele andere, einschließlich der semantischen Dekonstruktion.

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Grammatik der spekulativen Gegenwart

SM: Um auf Deinen vorigen Punkt zurückzukommen: Anstelle des jämmerlichen Komplexes von rechten und linken Reaktionen auf die spekulative Gegenwart, das heißt, anstelle der Zeitgenossenschaft in der Kunst und anderswo wird ein Weg benötigt, sich mit dem Zeitkomplex zu beschäftigen, bei dem es nicht nur darum geht, Profite zu machen und die Ausbeutung auf dieser überarbeiteten Grundlage nur noch weiter zu verschärfen, wie es der Neoliberalismus so erfolgreich getan hat. Diese kapitalisierte Formation des Zeitkomplexes ist eine Art von begrenzter und eingeschränkter Organisation der spekulativen Gegenwart; eine, die bei all ihrer Komplexität auf die Vergegenwärtigung zurück-greift, da die Profite heute durch die Kurztermingeschäfte des neoliberalen Kapitalismus angehäuft werden müssen.

AA: Das Problem ist leider, dass die gesellschaftliche, technologische, politische und ökonomische Formation des Neoliberalismus einen Vorteil hat, weil sie bereits innerhalb der spekulativen Zeitlichkeit agiert, und zwar zum Teil deshalb, weil sie Institutionen geschaffen hat, die im Einklang mit dieser spekulativen Logik funktionieren. Doch die neoliberale Formation reduziert zugleich auch die spekulative Dimension des Zeitkomplexes bzw. sein Potenzial, weil sie die Offenheit oder Kontingenz der Zukunft ebenso ausschließt wie die Gegenwart.

SM: Nein, der Meinung bin ich nicht. Ich denke, das Problem ist, dass sie zu mehr gesellschaftlicher und semantischer Kontingenz führt. Das haben Ulrich Beck und andere, die sich mit dem Begriff der »Risikogesellschaften« beschäftigten, in den 1980er Jahren in anderen Zusammenhängen untersucht.8 Was sie Risiko nennen, ist die Erkenntnis, dass der spekulative Zeitkomplex in der Gegenwart die Zukunft als Bedingung für eine gesellschaftliche Ordnung (genauer gesagt, für eine Quasi-Ordnung) öffnet.

AA: Nein, nein. Das Zeitgenössische ist eine permanente Produktion von Innovationen und Differenzen, aber es führt keine Differenz in die rekursive Zeitbewegung ein. Im Deutschen gibt es dazu die extrem hilfreiche aber kaum je beachtete (viele eher plumpe Reaktionen auf den Akzelerationismus bezeugen das) Unterscheidung zwischen Beschleunigung und Akzeleration. Letztere bezeichnete früher den Vorgang, wenn eine Uhr zu schnell lief. Eine Abweichung nach vorn – keine zirkuläre Bewegung, sondern eine rekursive. Die Akzeleration führte eine Art Differenz in die Funktionalität der Uhr ein. Und es ist diese Differenz, die das neoliberale oder neofeudale Wirtschaftssystem kaum zulässt, da sie eine automatisierte Zukunft produziert. Während die für die zeitgenössische (linke) Kunst typische Kritik nicht falsch ist, übersieht sie doch die Möglichkeiten der spekulativen Zeit und reduziert sie auf die Gegenwart. Sie sieht nur ihre kapitalistischen Effekte. Kritische zeitgenössische Kunst produziert nur verschiedene – im Wesentlichen dekorative – Objekte oder Bedeutungen, die die reduzierte Form des spekulativen Zeitkomplexes aufrechterhalten. Wobei ich hier wiederum nicht auf der Ebene nur der semantischen Bedeutung argumentiere, sondern wirklich auf der Ebene der Materialität der Sprache und der Materialität der Zeit, welche nicht getrennt werden können.

SM: So besteht die Aufgabe des Post-Zeitgenössischen gegen die Zeitgenossenschaft darin, die Zeit zu ändern?

AA: Das Post-Zeitgenössische arbeitet innerhalb der spekulativen Gegenwart. Es versteht sie, es praktiziert sie, und es gestaltet unsere Zeitlichkeit. Gibt es alternative Verwirklichungen der spekulativen Gegenwart, andere Lektüren? Aihwa Ong beschreibt in ihrem Essay einige dieser Möglichkeiten im Rahmen ihrer Anthropologie dessen, was sie »kosmopolitische Wissenschaft« nennt. Sie stellt dar, wie die Universalismen und Abstraktionen, die dem wissenschaftlichen Unternehmertum innewohnen, in Asien spezifische historisch-kulturelle Aussagen sowohl befördern als auch durch sie befördert werden, indem sie jede Form einer simplen Entgegensetzung von Lokalismen und Universalismen oder der Vergangenheit (Kultur) und der Zukunft (kommerzielle Technowissenschaften) untergraben.

Für eine spekulative Poetik, um ein weiteres Beispiel zu nennen, lautet die Frage, wie wir die Zukunft in einer offenen Weise und nicht nur als eine Art von indikativer Zukunft verstehen können.

SM: Was verstehst du unter »indikativ«?

AA: In der Grammatik gibt es drei Modi: den Imperativ (»Geh!«), den Indikativ (»Sie geht.«) und den Konjunktiv (»Ich könnte gehen.«). In der Sprachphilosophie – aber in der Folge ebenso politisch – ist es wichtig zu verstehen, dass alle grammatikalischen Zeitformen modal sind. Die Vergangenheit und die Gegenwart müssen in einer modalen Weise verstanden werden – hauptsächlich als Indikativ. Doch das Futurum und der Konjunktiv stehen sich sehr nahe, da beide die Grammatik der Möglichkeit verwenden. Aber die Logik des Zeitgenössischen reduziert diese Kontingenz ebenso wie sie die spekulative Temporalität auf die Gegenwart verengt (»Ich werde gegangen sein.«) Aber, um die technische Analyse ein wenig weiter zu treiben, der Konjunktiv wird konstruiert, bevor man wirklich geht, und so verwendet man entweder den Konjunktivmodus oder das erste Futur in der Gegenwart: »du gehst noch nicht.« Vielleicht ist das hier zu technisch, aber der Hauptpunkt ist, dass das Futurum in einen Präsens verwandelt wird und somit in eine Vergangenheitsform.

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SM: Ist der Konjunktiv die Form der Zeitgenossenschaft? Was er besagt, ist, dass Handlungen stattgefunden haben können, aber nicht stattgefunden haben: »sie würden oder könnten gehen«, aber sie sind nicht gegangen. Und dies ist eine Bedeutung, bei der das Subjekt des Satzes mit einer Potenzialität zurückbleibt, die aber nicht realisiert wird.

Das ergibt Sinn bei der Zelebrierung von »Potenzialität«, die sich überall in der kritischen Linken findet, und auch bei der Eingrenzung des spekulativen Zeitkomplexes auf die Beherrschung durch die Gegenwart. Ansprüche in der zeitgenössischen Kunst und in der Zeitgenossenschaft werden ausdrücklich darauf beschränkt, Optionen durch Potenziale zu ersetzen, ohne je wirklich etwas zu tun oder die spekulative Gegenwart zu mobilisieren, um damit tatsächlich eine Zukunft zu konstruieren. Die Zukunft wird so zu einer Reihe von Potenzialen, die nie zu verwirklicht werden brauchen, da zu befürchten ist, dass sie instrumentalisiert werden, und die in paradoxer und selbstzerstörerischer Weise in jeder Gegenwart eine Zukunft realisieren, die sich radikal von der Gegenwart unterscheidet.

AA: Die Reduktion des Zeitkomplexes auf Zeitgenossenschaft versteht die Zukunft, also die zukünftige Gegenwart, nicht als kontingente, sondern nur als gegenwärtige Zukunft, die real wird, also als Realwerden dessen was heute als zukünftig prognostiziert wird. Linguistisch oder grammatikalisch formuliert, werden Zukunft oder Gegenwart dabei nur über den Indikativ verstanden. Aus Sicht einer spekulativen Poetik aber ist die Gegenwart nicht nur ein »ist«, so wie das grammatische Tempus nicht die Zeit abbildet. Wir müssen uns von einem a-modalen Verständnis der Zeit befreien.

SM: Das Zeitgenössische ist a-modal?

AA: Ja, und was stattdessen für ein Denken und eine Praxis, die der spekulativen Zeitlichkeit, in der wir leben (einer Zukunftsgenossenschaft, wie ich vorhin gesagt habe), gebraucht wird, sind Mittel zur Transformation des Futurs in den Präsens. Deshalb ist die Grammatik für mich eine Weise, die spekulative Zeit in ihrer Offenheit zu verstehen, anstatt sie ausschließlich dem Indikativ-Modus zu unterwerfen. Eine Zukunft geschieht nur dann in der Gegenwart, wenn ein Konjunktiv erfolgreich realisiert wird, was durch einen Imperativ geschieht. Zwischen »Ich könnte gehen« (Konjunktiv Präsens) und »Ich gehe« (Futur Indikativ) liegt der verborgene Befehl »Geh!« (Imperativ).

Für mich ist es genau diese grammatikalisch organisierte Differenz, die nicht nur eine andere Zukunft eröffnet, sondern auch die Möglichkeit, anders in der Gegenwart zu handeln, anstatt einer automatisierten Zukunft unterworfen zu werden, ob nun durch präemptive Politik oder durch Derivate. Allgemeiner gesagt, wir müssen verstehen, dass die Sprache den Sinn und die Zeit verändert – und zwar auf einer materiellen und ontologischen Ebene, nicht nur auf einer sprachlichen oder begrifflichen Ebene. Diese Komplexe können durch grammatikalische Analysen angepackt werden.

SM: Okay, aber wie fast alle Beiträge in diesem Band zeigen, müssen wir die Konstruktion des Zeitkomplexes auch jenseits der Sprache und ihrer Grammatik verallgemeinern. Die Bedingungen, über die wir sprechen, bestehen aus den umfangreichen Infrastrukturen und Systemen der spekulativen Gegenwart in riesigen integrierten Gesellschaften. Im Allgemeinen sind die Konstruktionen der menschlichen Sprachen (vermutlich nur einiger), so ähnlich wie das Ungenügen der Erfahrung als Grundlage für ein Verständnis der spekulativen Gegenwart, nur ein Teil dieses integrierten Komplexes, aber nicht offen genug als Mechanismus, um den weitreichenden materiellen und semiotischen Zuständen gerecht zu werden.

AA: Wir brauchen mehr als eine Sprachtheorie, das ist schon richtig, aber auf jeden Fall brauchen wir etwas, was ich als ein »poetisches Verständnis« bezeichne, das von der Sprachtheorie und nicht von einer ästhetischen Theorie geprägt ist.

SM: Ich bin anderer Meinung, und zwar erstens, selbst wenn man Poetik als Namen für Produktion im Allgemeinen nimmt, scheint sie mir doch zu eng in die Strukturen und Affordanzen von mehr oder weniger gewöhnlichen menschlichen Sprachen und ihrer Ordnung eingebunden zu sein. Das ist natürlich eine grundlegende Bedingung der systemischen, gesellschaftlichen, technologischen und ökonomischen Strukturierung und Mediation, die bei einer umfangreichen Organisation notwendig ist. Während Poetik, so wie du sie präsentierst, uns als menschlichen sprechenden Akteuren einen Weg zur Neuordnung des spekulativen Zeitkomplexes in anderen Formaten als der Art von repressiven Mechanismen der Zeitgenossenschaft und dessen, was du als Indikativ identifizierst, bietet, ist es auch notwendig, dass die Restrukturierung auch in nicht-linguistischen Begriffen operationalisiert wird. Wir müssen den Zeitkomplex hinsichtlich seiner Infrastrukturen öffnen, die eher in anderen Formen als denen menschlicher Sprachen strukturiert sind. Genau das zeigt Benjamin Bratton in seinem Essay zum spekulativen Design anhand konkreter, spezifischer, auf einer Zeitachse angelegter Beispiele, nicht zuletzt mit seiner Bestimmung des »Stacks«, der zeigt, wie die herrschenden Machtverhältnisse entsprechend der materiellen und infrastrukturellen Bedingungen global vernetzter Berechenbarkeit neu geordnet werden. Noch allgemeiner gesprochen brauchen wir jedoch eine Grammatik, die der expansiven Infrastruktur des Zeitkomplexes in seiner ausgedehntesten Ausformung entspricht.

1 Der Zeitkomplex ist spezifisch für die Strukturen integrierter sozio-technischer und psychisch-mnemischer Systeme der Individuation und wurde von Bernard Stiegler vorgeschlagen; vgl. z. Bsp. La Tech­nique et le Temps 2: La Désorientation, Paris 1996, und De la Misère symbolique, 1: L’Époque hyperindustrielle, Paris 2004. Doch der spe­ku­lative Zeitkomplex unterscheidet sich von Stieglers These insofern, als er 1. eher eine spekulative Konstitution der Zeit als die Erinnerung und die mensch­liche Verzeitlichung umfasst, und 2. ist der spekulative Zeit­komplex gegen Stieglers Appell gerichtet, eine ästhe­tisch kon­sti­tuierte Erfahrung der Individuation trotz der komplexi­täts­erzeu­genden sozio-technischen Konfigurationen zu retten.
2 Rob Horning, »Preemptive Personalization«, The New Inquiry, Blogs, 11. September 2014; thenewinquiry.com/blogs/marginal-utility/ preemptive-personalization/.
3 Brian Massumi, »Potential Politics and the Primacy of Preemption«, Theory & Event 10:2, 2007.
4 Vgl. www.spekulative-poetik.de
5 Armen Avanessian, Suhail Malik (Hg.), Genealogies of Speculation. Materialism and Subjectivity since Structuralism, Bloomsbury 2016.
6 Armen Avanessian, Anke Hennig, Präsens. Poetik eines Tempus, Zürich 2012.
7 Jacques Derrida und Bernard Stiegler, Echographien: Fernsehgespräche, Wien 2006.
8 Ulrich Beck, Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.

Überarbeitete Niederschrift eines Gesprächs, das am 29. Januar 2016 in Berlin stattfand.

ABBILDUNGEN: Andreas Töpfer

Dieser Artikel ist dem Buch Der Zeitkomplex. Postcontemporary (Hg: Armen Avanessian und Suhail Malik, Merve 2016) entnommen.

Aus dem Englischen von Ronald Voullié